Die Jahre der Toten: Roman (German Edition)
vor ihr sitzenden Verletzten. Sie stand auf und nahm Sergeant Decker die Papiere ab. Dann wandte sie sich an ihren Patienten. » Sie können gehen. Behalten Sie die Wunde im Auge. Kann sein, dass sie noch eine Weile pocht, aber große Schmerzen dürfte sie nicht mehr verursachen. Vergessen Sie nicht, das Penicillin einzunehmen, das ich Ihnen gegeben habe. Nehmen Sie etwa alle sechs Stunden eine.«
Mbutu grinste. Der Patient verstand vielleicht nur jedes dritte von Rebecca geäußerte Wort. Als der Mann an ihm vorbei hinausgehen wollte, hielt Mbutu ihn am Arm fest und wiederholte die Anweisungen auf Swahili. Er hatte richtig vermutet. Der Mann kam aus seinem Heimatland.
» Asante!«, sagte er mit einem breiten Lächeln, bevor er weiterging.
» Gern geschehen.« Mbutu wandte sich wieder Rebecca und Sergeant Decker im Lazarett zu. Die beiden unterhielten sich leise miteinander. Mbutu hätte ebenso gut unsichtbar sein können. Außer ihm befand sich niemand hier.
Mbutu lächelte. Er war ja nicht blöd. Er räusperte sich, und die beiden schauten sich zu ihm um.
» Dann geh ich mal nach oben«, sagte er. » Könnte ja sein, dass da jemand Hilfe braucht.«
» Ja, gut«, sagte Rebecca. » Sobald wir den Laden hier auf Vordermann gebracht haben, kommen wir auch rauf.«
Decker winkte Mbutu zu.
Mbutu schlenderte den Gang entlang und drückte sich erneut an die Wand, um Soldaten passieren zu lassen. Er hatte noch immer ein leises Lächeln im Gesicht. Kein Ehemann, hatte sie gesagt. Tja, ein Sergeant der US Army war nicht das Schlechteste, was sie sich angeln konnte.
Im Lazarett schob Rebecca ihre » Akten« in einen Ordner, den sie in eine Schreibtischschublade legte. Dann wandte sie sich zu Sergeant Decker um.
» Und?«, fragte sie.
» Und?«, wiederholte er.
» Na, du bist doch sicher nicht nur hergekommen, um mir die Akten zu bringen.« Rebecca schob ihr Haar kokett hinters Ohr. » Obwohl ich mich auch darüber freue.«
» Hast mich erwischt«, sagte Decker lächelnd. » Ich wollte mich noch ’n bisschen mit dir unterhalten.«
» Oh, bin ich wirklich so interessant?«
» Tja, du bist interessanter als alle anderen Menschen auf diesem Schiff.« Decker lehnte sein Gewehr gegen den Untersuchungstisch.
Rebecca lachte. » Dann sagen wir mal…ähm…danke.«
» Wir sind auf Heimatkurs«, begann Decker. Er wählte sorgfältig seine Worte. » In ein paar Wochen müssten wir da sein. Ich habe mir gedacht…«
» Unteroffiziere denken?«, warf Rebecca ein.
» Ha-ha. Ich habe mir gedacht…Nun ja, vielleicht könnten wir, wenn wir wieder zu Hause sind, mal ausgehen. Mein Guthaben ist ziemlich ordentlich. In den letzten Einsatzmonaten hatte ich keine Gelegenheit, irgendwas davon auszugeben.«
Rebecca lächelte und schaute zu Boden, damit er nichts merkte, falls sie erröten sollte.
» Das gilt natürlich nur für den Fall«, fügte Decker schnell hinzu, » dass es, wenn wir zu Hause ankommen, noch Restaurants gibt.«
» Das ist überhaupt nicht witzig«, erwiderte Rebecca.
» Aber?«
» Ach…« Rebecca dachte erst nach, bevor sie antwortete. » Ich…ähm…glaube, das würde mir sehr gefallen.«
Decker ließ ein Grinsen aufblitzen. » Mir auch.«
Sie lächelten und schauten sich mehrere Herzschläge lang an. Dann beugten sie sich, als bestünde zwischen ihnen ein unausgesprochenes Einverständnis, so weit vor, bis ihre Nasen nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren.
Draußen summte laut die bordinterne Gegensprechanlage. Die beiden zuckten zurück. Der magische Augenblick war im Eimer.
» Hier spricht der Captain. Vor dem Beginn unserer Reise einige Bekanntmachungen. Alles herhören. Anweisung an alle zivilen Flüchtlinge und Militärpassagiere: Betreten Sie keine Bereiche, die als der Mannschaft vorbehalten gekennzeichnet sind. Passagiere sind nur befugt, sich in ihren gegenwärtigen Quartieren, der Messe und an Deck aufzuhalten. Die Messe braucht Freiwillige, die beim Zubereiten von Mahlzeiten behilflich sind. General Sherman und sein Stab bitte auf die Brücke…«
Als die Durchsage endete, trat Mbutu oben gerade in die heiße Sonne. General Sherman und Sergeant Major Thomas standen am anderen Ende des Decks und schauten stirnrunzelnd zur Brücke hinauf. Mbutu sah, dass Sherman Thomas ein Zeichen gab, dann marschierten die beiden mit festem Schritt in Richtung Vorschiff. Mbutu wusste nicht genau, ob ihm der Gesichtsausdruck des Generals gefiel. Als die beiden näher kamen, riskierte er es, sie
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