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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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tiefsten und schönsten in Laura Dïaz' Leben? Es vergeht keine Nacht, ohne daß sie vom Gesicht ihres jungen erschossenen Bruders träumt, der im Meer bestattet wurde und in den Wellen des Golfs von Mexiko untertauchte.
    An dem Tag, als ihre Mutter Leticia beerdigt wurde, lebte Laura gleichzeitig zwei Leben. Mechanisch erfüllte sie sämtliche Riten, bewältigte alle Stationen der Totenwache und des Begräbnisses, die beide sehr einsam waren. In Xalapa gab es keine einzige der alten Familien mehr. Die verlorengegangenen Vermögen, die Angst vor den neuen Gouverneuren, Sozialisten, die enteigneten und Pfaffen haßten, die magnetisch wirkende Hauptstadt, die verheißungsvollen neuen Chancen fern der provinziellen Heimat, Täuschungen und Enttäuschungen hatten die alten Freunde und Bekannten weit fort von Xalapa getrieben. Laura besuchte die Hazienda San Cayetano. Es war eine Ruine, und nur ui Lauras Erinnerung waren die Walzer zu hören, das Lachen, das eifrige Hin und Her der Kellner, das Klirren der Gläser, sah die hoch aufgerichtete Gestalt Dona Genoveva Deschamps.
    Die Mutti stieg in die Erde hinab, doch im zweiten Leben, das ihre Tochter an jenem Tag lebte, wurde die Vergangenheit zur Gegenwart, wie eine Geschichte ohne Reliquien, die Stadt im Gebirge erschien plötzlich am Meeresufer, die alt gewordenen Bäume entblößten ihre Wurzeln, die Vögel schwirrten blitzschnell vorüber, die Flüsse mündeten aschebedeckt im Meer, selbst die Sterne waren aus Staub und der Wald ein orkanartiger Schrei.
    Nacht und Tag gab es nicht mehr.
    Ohne Leticia war die Welt auf den Morgen zusammengeschrumpft.
    Nur der Duft des endlosen Regens in Xalapa riß Laura Dïaz aus ihrem Tagtraum, und sie sagte zu Maria de la O: »Jetzt, Tantchen, jetzt mußt du wirklich mit uns in die Hauptstadt kommen.«
    Doch Maria de la O sagte nichts. Sie würde nie wieder etwas sagen. Sie würde Dinge bejahen, verneinen. Mit einer Kopfbewegung. Leticias Tod hatte ihr die Worte geraubt, und als Laura den Koffer der Tante nahm, um das Haus zu verlassen, blieb die alte Mulattin stehen und drehte sich langsam im Kreis, als könnte sie und nur sie die Geister dieses Hauses neu zusammenrufen, ihnen einen Platz geben, sie als Familienmitglieder bestätigen. Laura sah tiefgerührt, wie sich die letzte der Kelsen-Schwestern von dem Veracruzaner Haus verabschiedete, sie, die einst mittellos und gebrandmarkt gekommen war, damit ein guter Mensch sie rettete, Fernando Dïaz, für den Gutes zu tun ebenso natürlich war wie zu atmen.
    Bald würde die Spitzhacke das Xalapaer Haus in der Galle Bocanegra einreißen, zusammen mit seinem nutzlosen Tor für nutzlose Pferdekutschen oder uralte, Benzin fressende Isotta-Fraschinis. Verschwinden würden die Vordächer, die vor dem hartnäckigen Nieselregen des Gebirges schützten, der Innenhof mit den großen Porzellantöpfen und den eingesetzten kleinen Glasscherben, die Küche mit ihren Kohlestücken wie glühenden Diamanten, ihren armseligen Mahlsteinen und ihren Palmblattfächern, das Eßzimmer und die Bilder des von einem Hund gebissenen Straßenjungen. Maria de la O rettete nur die silbernen Serviettenringe ihrer Schwestern. Bald würde die Spitzhacke kommen.
    Maria de la O, die letzte Zeugin der Vergangenheit ihrer Sippe, ließ sich geruhsam von Laura zum Bahnhof des Interoceànico führen, ebenso ruhig, wie man Leticias Leichnam zum Friedhof von Xalapa gebracht und neben ihrem Mann beerdigt hatte. Was blieb dem Tantchen anderes übrig, als ihre verstorbene Schwester nachzuahmen und zu behaupten, daß sie, Maria de la O, weiter ihren Familienzweig auf die einzige ihr noch mögliche Weise lebendig erhielt: so reglos und still wie eine Tote, aber so diskret und rücksichtsvoll, wie es ihre unvergeßliche Schwester gewesen war, die als Kind an ihren Geburtstagen immer ein weißes Kleid angezogen hatte und auf den Patio der Hazienda in Catemaco hinausgelaufen war, um zu tanzen:
    »Am zwölften Mai schlüpfte die Jungfrau aus dem Ei, schneeweiße Windeln um den Po und im Paletot…«
    Die Erinnerungen an die tote Schwester Leticia und an die Nichte Laura gerieten im Gedächtnis Maria de la Os durcheinander.
    Eines Tages, ein Jahr war vergangen, kehrte Jorge  Maura überstürzt aus Washington zurück, und Laura Di'az führte alles, seine Eile, seine Traurigkeit, auf das Unvermeidliche zurück: Die Franquisten hatten Barcelona am 26. Januar eingenommen und rückten auf Gerona vor, die Zivilbevölkerung floh über die

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