Die Jahre mit Laura Diaz
mit dir?«
»Weißt du was«, antwortete Maura heftig. »Ich sehe diesen armen, barfüßigen und mit einem Umhang bekleideten Indio, und ich sehe ihn gleichzeitig in gestreifter Häftlingstracht und mit einem grünen Dreieck auf der Brust, weil er ein gewöhnlicher Krimineller ist, mit einem roten Dreieck, weil er ein politischer Agitator ist, mit einem rosa Dreieck für die Schwulen und einem schwarzen, weil er asozial ist; einem Davidstern, weil er Jude ist…«
Sie heißt Raquel Mendes-Alemân. Sie hatten zusammen in Freiburg studiert und das besondere Glück gehabt, die Vorlesungen Edmund Husserls besuchen zu können, der ein großer Lehrmeister und philosophischer Weggefährte war, eine Gestalt, die das unabhängige Denken ihrer Schüler förderte. Raquel und Jorge fanden einander sofort sympathisch, weil Raquel von sephardischen Juden abstammte, die die Katholischen Könige 1492 aus Spanien vertrieben hatten. Sie sprach das Spanisch des 15. Jahrhunderts, und ihre Eltern lasen sephardische Zeitungen im Spanisch des Erzpriesters von Hita und von Fernando de Rojas und sangen hebräische Lieder, die den spanischen Heimatboden ehrten. Wie alle Sephardim hatten sie die Schlüssel ihrer früheren kastilischen Häuser aufbewahrt, sie hingen in ihren neuen deutschen Häusern an einem Nagel und warteten, nach über vier Jahrhunderten, auf den ersehnten Tag der Rückkehr auf die Iberische Halbinsel.
»Spanien«, beteten abends die Eltern und Familienangehörigen Raquels im Chor, »Spanien, du undankbare Mutter, du hast deine jüdischen Kinder verstoßen, uns, die dich so sehr geliebt haben, aber wir hegen keinen Groll gegen dich, du bist unsere geliebte Mutter, und wir möchten nicht eher sterben, als bis wir eines Tages zu dir zurückgekehrt sind, geliebtes Spanien…«
Raquel schloß sich dem Gebet nicht an, weil sie in ihrem Immatrikulationsjahr in Freiburg einen sehr ernsten Entschluß gefaßt hatte. Sie konvertierte zum Katholizismus.
»Sie haben mich heftig kritisiert«, erzählte sie Jorge Maura. »Sogar zu Hause. Sie glaubten, ich wäre Katholikin geworden, weil ich dem jüdischen Stigma entgehen wollte. Die Nazis sammelten sich, um die Macht zu erobern. Im Weimarer Deutschland gab es keinen Zweifel, wer in diesem verarmten, gedemütigten Land am Ende gewinnen würde. Die Deutschen wollten einen starken Mann für ein schwaches Land. Ich habe allen klargemacht, daß ich keinem Stigma entgehen wollte. Ganz im Gegenteil. Es war eine Herausforderung. Es war eine Art, der Welt, meiner Familie, den Nazis zu sagen: Seht her, wir sind alle Semiten. Ich bin Katholikin, weil ich mich grundsätzlich von meinen Eltern unterscheide. Ich glaube, daß der Messias schon gekommen ist. Er heißt Jesus Christus. Sie warten immer noch auf ihn, und diese Erwartung verblendet sie und verdammt sie zur Verfolgung, denn jemand, der die Ankunft des Erlösers erwartet, ist immer ein Revolutionär, ein Element der Unordnung und Gewalt: auf den Barrikaden wie Trotzki, an der Wandtafel wie Einstein, mit der Kamera in der Hand wie Eisenstein, im Hörsaal wie unser Lehrer Husserl, der Jude stört und verändert, beunruhigt und revolutioniert… Er kann nicht anders. Er wartet auf den Erlöser. Wenn du dagegen wie ich anerkennst, Jorge , daß der Erlöser längst auf Erden erschienen ist, kannst du die Welt in seinem Namen umgestalten, ohne von der chiliastischen Erwartung gelähmt zu werden, von der Hoffnung auf das Jahrtausend, das gleich bei seinem Beginn alles verändern wird.«
»Du redest, als wären die modernen Anhänger des Fortschritts, einschließlich der Marxisten, Erben des jüdischen Mes-sianismus«, rief Jorge .
»Das sind sie auch, merkst du das denn nicht?« antwortete Raquel schnell. »Und es ist gut so. Sie hoffen auf den Umsturz durch das Tausendjährige Reich, und unterdessen werden sie von ihrer Ungeduld getrieben, einerseits die Relativität, den Film oder die Phänomenologie zu entdecken, wodurch sie andererseits der Gefahr ausgesetzt sind, alle erdenklichen Verbrechen im Namen der Verheißung zu begehen. Ohne es selbst zu bemerken, sind sie die Henker gerade jener Zukunft, die sie so sehr herbeisehnen.«
»Aber die schlimmsten Feinde der Juden sind diese Nazis, die mit ihren kaffeebraunen Uniformen und ihren Hakenkreuzen überall auf den Straßen herumlaufen.«
»Das kommt, weil es nicht zwei auserwählte Völker geben kann. Entweder sind es die Juden oder die Deutschen.«
»Aber die Juden töten keine
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