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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Pyrenäen.
    »Barcelona«, sagte Laura. »Von dort kam Armonïa Aznar.«
    »Die Frau, die in deinem Haus lebte und die du nie gesehen hast?«
    »Ja. Mein eigener Bruder Santiago hat bei den Anarchosyndi-kalisten mitgemacht.«
    »Du hast mir kaum etwas über ihn erzählt.«
    »Ich kann nicht gleichzeitig von zwei so großen Lieben sprechen.« Sie lächelte. »Er war ein hochtalentierter Junge, sehr hübsch und sehr mutig. Er war wie der Held im Scharlachroten Jiegek« Nun lachte sie nervös. »Er trat wie ein Geck auf, um seine politische Arbeit zu tarnen. Er ist mein Heiliger, er hat sein Leben für seine Ideen hingegeben, sie haben ihn erschossen, als er zwanzig war.«
    Jorge  Maura verharrte in einem beunruhigenden Schweigen. Laura sah zum erstenmal, daß er den Kopf senkte, und erst jetzt wurde ihr bewußt, daß er ihn sonst immer stolz, sogar ein wenig arrogant hochreckte. Lag es daran, daß sie beide gerade die Basilika von Guadalupe betraten? Maura hatte darauf bestanden, sie dorthin mitzunehmen, um das Gedächtnis Dona Leticias zu ehren, die er nicht hatte kennenlernen können.
    »Bist du Katholik?«
    »Ich glaube, sogar die Atheisten in Spanien und Lateinamerika sind Katholiken. Außerdem will ich nicht aus Mexiko fortgehen, ohne zu begreifen, warum die Heilige Jungfrau das Sinnbild der nationalen Einheit Mexikos ist. Weißt du, daß die royalistischen spanischen Truppen das Bild der Heiligen Jungfrau von Guadalupe während des Unabhängigkeitskriegs erschossen haben?«
    »Du gehst fort aus Mexiko?« fragte Laura in ganz unbeteiligtem Ton. »Dann muß mich die Heilige Jungfrau vergessen haben.«
    Er zuckte mit den Achseln, was bedeuten sollte: »Ich gehe und komme, wie immer, worüber wunderst du dich?« Sie knieten nebeneinander in der ersten Bankreihe der Basilika, dem Altar der Heiligen Jungfrau gegenüber, deren gerahmtes und hinter Glas geschütztes Bildnis, erklärte Laura, sich dem Volksglauben zufolge auf dem Kittel Juan Diegos gezeigt habe, eines armen Indios, eines Tameme oder Lastträgers, dem die Muttergottes an einem Dezembertag des Jahres 1531 erschienen sei, kurz nach dem Ende der spanischen Eroberung, auf dem Hügel El Tepeyac, wo man zuvor eine aztekische Göttin angebetet hatte.
    »Wie schlau die Spanier im sechzehnten Jahrhundert waren.« Maura lächelte. »Gleich nach ihrem militärischen Sieg machen sie sich an die geistige Eroberung. Sie vernichten – nun ja, wir vernichten – eine Kultur und die dazugehörende Religion, aber dafür geben wir den Besiegten unsere eigene Kultur mit indianischen Symbolen. Oder haben wir ihnen ihre eigene Kultur zurückgegeben, mit europäischen Symbolen?«
    »Wir nennen sie hier die braunhäutige Jungfrau. Da liegt der Unterschied. Sie ist nicht weiß. Sie ist die Mutter, die die verwaisten Indios brauchten.«
    »Das ist es, und merkst du, wie genial es ist? Eine christliche und indianische Jungfrau, doch auch die Heilige Jungfrau Israels, die jüdische Mutter des erwarteten Messias, und dazu hat sie einen arabischen Namen, Guadalupe, Wolfsfluß. Wie viele Kulturen machen den Wert eines Bildes aus!«
    Das Gespräch wurde von einem geheimnisvollen Hymnus unterbrochen, der hinter ihnen erklang und von der Tür der Basilika wie ein uraltes Echo vordrang. Er ging nicht von den Stimmen der hereinkommenden Pilger aus, sondern begleitete oder empfing sie gar von früheren Jahrhunderten aus. Jorge  blickte zum Chor, aber da gab es niemanden, keinen Organisten und keine Chorknaben. Die Prozession kam mit ihrem eigenen Gesang, der dumpf und monoton war wie alle indianische Musik in Mexiko, ohne daß er das Schurren der mühsam durch den Gang geschleiften Knie übertönen konnte. Alle krochen auf den Knien, ein paar mit brennenden Kerzen in der Hand, andere mit kreuzförmig ausgebreiteten Armen, wieder andere mit ans Gesicht gedrückten Fäusten. Die Frauen trugen Skapuliere. Die Männer Opuntienblätter auf den nackten, blutenden Brüsten. Einige Gesichter waren beim Hereinkommen mit im Genick festgebundenen Gazemasken verhüllt, welche die Mienen zu bloßen Andeutungen werden ließen, die sich hartnäckig bemühten, deutlicher hervorzutreten. Die leisen Gebete klangen wie Vogelgesang, wie an- und abschwellendes Gezwitscher, das ganz anders war, spürte Maura, als der gleichmäßige Klang der spanischen Sprache, die einen neutralen Rhythmus hatte, damit ihre Wutausbrüche, Befehle und Reden noch energischer klangen: Hier gab es wahrscheinlich keine einzige

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