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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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uns damals in der ersten Nacht zurückgehalten hätten? In wessen Namen hätten wir geduldig sein sollen? Unser Leben verrinnt, meine angebetete Frau, mein munteres Weib.« Und sie schwieg und beobachtete ihren Ehemann, der El Nacional las, oder die Kleinen, die Hausaufgaben machten, während sie zu Maura sagen wollte und es wortlos auch tat, nichts hat meine Lebensunrast besänftigt, bis ich dich fand, und jetzt fühle ich mich zufrieden. Ich verlange nichts weiter, mein Hidalgo, nur daß du heil und gesund zurückkehrst und wir uns treffen und du mich bittest, alles ein für allemal aufzugeben, das tue ich unverzüglich, daran hindern mich keine Kinder, kein Mann und keine Mutter, nur auf dich kommt es an, weil ich bei dir spüre, daß ich meine Jugend noch nicht ausgeschöpft habe, erlaubst du, daß ich es dir offen sage? Gestern bin ich zweiundvierzig geworden, und es hat mich geschmerzt, daß du nicht hier warst und wir meinen Geburtstag zusammen feiern konnten, Juan Francisco und Danton hatten ihn vollständig vergessen, nur Santiago hat daran gedacht, und ich habe ihm gesagt: »Es ist unser Geheimnis, sag ihnen nichts«, und Santiago hat mich umarmt wie eine Komplizin. Das wäre mein vollständiges Glück, du und ich und mein Lieblingssohn. Warum soll ich es abstreiten? Wie albern ist es, wenn man behauptet, alle Kinder gleich lieb zu haben, es stimmt nicht, wirklich nicht, es gibt Kinder, in denen du das errätst, was dir fehlt, Kinder, die mehr als sie selbst sind, Kinder wie Spiegel vergangener und zukünftiger Zeiten, so ist mein Santiago, der meinen Geburtstag nicht vergessen und mich auf den Gedanken gebracht hat, daß du mir die Rechtfertigung gibst, die eine Frau in meinem Alter braucht, denn, mein Hidalgo, wenn ich das Leben, das du mir bietest, nicht annehme, habe ich überhaupt kein Leben mehr, das ich meinen Kindern, meinem armen Mann, meiner Mutter noch bieten könnte.
    Leticia starb, die großartige, abgöttisch verehrte Mutti, die zentrale weibliche Leitgestalt in Laura Dïaz' Leben, die Säule, um die sich alle männlichen Efeupflanzen rankten, Großvater Don Felipe, Vater Don Fernando, der ebenfalls abgöttisch verehrte Bruder Santiago, der Leiden bringende und selber leidende Orlando Ximénez, Juan Francisco, der Ehemann, die Kinder, die von der Großmutter aufgezogen wurden, während sich das Leben des Landes nach einer überaus langen, überaus blutigen (und nun schon so fernen) Revolution beruhigte, während Laura und Juan Francisco vergebens zueinander finden wollten, während Laura und Orlando sich tarnten, um sich nicht zu sehen und nicht gesehen zu werden – sie alle waren Schlingpflanzen, die sich zum Balkon Leticias hinaufwanden, alle außer Jorge  Maura, dem ersten Mann, der vom Veracruzaner Stamm unabhängig war, diesem Stamm, genährt durch die Stärke Leticias, ihre Charakterfestigkeit, ihre Sorgfalt, ihre Hingabe an die Pflichten des Alltags, ihre unendliche Fähigkeit, Vertrauen einzuflößen, dazusein, ohne Urteile abzugeben, ihre Diskretion.
    Leticia verschwand, und mit ihrem Tod tauchten die Kindheitserinnerungen wieder auf. Der Tod heute läßt das Leben von gestern wiederauferstehen. Laura konnte sich jedoch an kein einziges Wort ihrer Mutter erinnern. Als wäre Leticias Leben ein einziger langer Seufzer gewesen, der von den zahllosen Tätigkeiten verborgen wurde, damit alles im Haus reibungslos weiterging. Ihre Worte, das waren ihre Küche, ihre Sauberkeit, ihre gestärkte Wäsche, ihre sorgfältig aufgeräumten und nach Lavendel duftenden Kleiderschränke, die vierfüßigen Badewannen, die Krüge mit kochendem und die Kannen mit kaltem Wasser. Ihre Gespräche bestanden in ihrem Blick, ihrem klugen Schweigen, um die Dinge ohne Beleidigungen, Lügen oder unnützen Zank zu begreifen und begreiflich zu machen. Ihr Schamgefühl ließ eine im Inneren geborgene Liebe erraten, ohne daß es sich jemals zur Schau stellen mußte. Die Trennung der ersten Jahre, als Don Fernando mit Santiago in Veracruz lebte und sie in Catemaco, war eine harte Schule für sie gewesen. Aber erhielt Laura, das junge Mädchen, nicht erst durch diese erzwungene Distanz die Möglichkeit, die Gesellschaft ihres Bruders Santiago gerade in dem Moment zu finden, der genau richtig für die Begegnung war: als die beiden zusammen ein bißchen Kinder und ein bißchen Erwachsene sein, zuerst spielen und danach weinen konnten, ohne eine andere Beziehung, die die Reinheit der Erinnerung getrübt hätte, der

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