Die Jahre mit Laura Diaz
Stimme, die in Zorn geraten, befehlen oder zu den übrigen in einem Ton sprechen konnte, der lediglich jener eines Ratgebers und vielleicht der des Schicksals war, »aber sie haben ihren Glauben«, Maura hob die Stimme, »ja«, sagte Laura, bevor er weitersprechen konnte, »sie haben ihren Glauben, was ist los mit dir, Jorge , warum sprichst du so?«, sie konnte es nicht verstehen, »du kannst es nicht verstehen, Laura«, »dann erkläre es mir, sprich, Maura«, entgegnete Laura, sie wollte sich von dem bebenden Zweifel, dem kaum beherrschten Zorn, dem ironischen Humor Jorge Mauras in der Basilika von Guadalupe nicht überwältigen lassen, während sie eine Prozession frommer Indios hereinkommen sahen, die einen Glauben ohne Frage bewahrten, einen reinen Glauben, offen für alle Eingebungen der Leichtgläubigkeit: »Es stimmt, ist sicher, weil es unglaublich ist«, sagte Jorge mehrmals, der plötzlich dem Ort, wo er sich befand, der Basilika von Guadalupe, und der Person an seiner Seite, Laura Dïaz, entrückt war, das spürte sie mit unabweislicher Kraft, sie konnte nichts tun, ihre einzige Aufgabe war zuzuhören, sie würde die Flut der Leidenschaft nicht aufhalten, die die Prozession barfüßiger mexikanischer Indios in Maura geweckt hatte, und diese Flut ließ seine gelassene Redeweise, seine vernunftgeleiteten Überlegungen in tausend Stücke brechen und stürzte ihn in einen Wirbel aus Erinnerungen, Vorahnungen und Niederlagen, die um ein einziges Wort kreisten: »Glaube, der Glaube, was ist der Glaube? Warum glauben diese Indios? Warum glaubte mein Lehrmeister Edmund Husserl an die Philosophie? Warum glaubte meine Geliebte Raquel an Christus? Warum glauben Basilio, Vidal und ich an Spanien? Warum glaubte Pilar Méndez an Franco? Warum glaubt ihr Vater, der Bürgermeister von Santa Fe de Palencia, an den Kommunismus? Warum glauben die Deutschen an den Nazismus? Warum glauben diese schutzlosen, ausgehungerten Männer und Frauen, die von dem Gott, den sie anbeten, niemals eine Belohnung erhalten haben, an ebendiesen Gott? Warum glauben und handeln wir im Namen unseres Glaubens, obwohl wir wissen, daß wir für die Opfer nicht belohnt werden, die er uns als Prüfungen auferlegt? Wohin gehen diese ärmsten Knechte des Herrn?« Wer, wer war die gekreuzigte Gestalt, die Jorge Maura so aufmerksam betrachtete? Denn die Prozession kam nicht, um Christus zu sehen, sondern dessen Mutter, diese Leute waren felsenfest überzeugt, daß sie ihn ohne Sünde empfangen hatte, daß sie vom Heiligen Geist und nicht von einem geilen Zimmermann, dem wahren Vater Jesu, geschwängert worden war. Wußte auch nur ein einziger von diesen Büßern, die auf ihren Knien zum Altar von Guadalupe rutschten, daß Maria Empfängnis nicht unbefleckt war? Warum glaubte er, Jorge Maura, nicht daran? »Warum glauben wir, du, Laura, und ich nicht daran? Woran glauben du und ich? Können wir gemeinsam an Gott glauben, weil er sich der heiligen Straflösigkeit Jehovas entäußerte und in Christus zum Menschen wurde? Können wir an Gott glauben, weil Gott durch Christus so schwach wurde, daß wir Menschen uns in ihm wiedererkannten? Nahm Christus menschliche Gestalt an, damit wir uns in ihm wiedererkannten, Laura? Mußten wir uns deshalb aber noch mehr erniedrigen? Um Christi würdig und nicht mehr als Er zu sein? Ist das unsere Tragödie, ist das unser Unglück, daß wir, um an Christus zu glauben und seiner Erlösung würdig zu sein, seiner unwürdig und weniger sein müssen als Er, Sünder, Mörder, lüstern und hochmütig? Besteht der wahre Beweis für den Glauben darin, anzuerkennen, daß Gott von uns verlangt, zu tun, was Er nicht erlaubt? Gibt es einen einzigen Indio in diesem Gotteshaus, der so etwas denkt?« – »Nein, Jorge , keiner, das kann ich mir nicht vorstellen.« – »Müssen wir so gut und einfältig und ohne Versuchungen sein wie diese armen Menschen, um Gottes würdig zu werden, oder müssen wir so rational und selbstgefällig wie du und ich, Raquel Mendes-Alemân und Pilar Méndez und ihr Vater sein, der Bürgermeister von Santa Fe de Palencia, um dessen würdig zu werden, woran wir nicht glauben? Der Glaube des mexikanischen Indios, der des deutschen Philosophen, der bekehrten Jüdin, der faschistischen Aktivistin oder der des kommunistischen Aktivisten? Was ist für Gott selbst der beste, der wahrhaftigste Glaube von allen? Sag es mir, Laura.« –»Erzähl du es mir, Jorge … Aber sprich leiser. Was ist heute nur los
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