Die Jahre mit Laura Diaz
Deutschen, Raquel.«
»Das ist der Unterschied. Der hebräische Messianismus wird in Kunst, Wissenschaft und Philosophie schöpferisch sublimiert. Er wird zu einem schöpferischen Messianismus, weil er sonst wehrlos ist. Die Nazis haben kein schöpferisches Talent. Ihr Geist hat nur ein Ziel: den Tod. Sie sind der Geist des Todes. Aber fürchte den Tag, an dem Israel beschließt, sich zu bewaffnen, und im Namen des militärischen Erfolgs seinen schöpferischen Geist verliert.«
»Vielleicht lassen die Nazis ihnen als Volk keine andere Wahl. Vielleicht bekommen es die Juden irgendwann satt, die ewigen Opfer der Geschichte zu sein. Die Lämmer.«
»Ich bete, daß sie niemals zu Henkern eines anderen werden. Daß die Juden nicht irgendwann ihre eigenen Juden haben.«
»Die katholische Kirche hat sich bei Verbrechen nicht zurückgehalten, liebe Raquel. Denk daran, daß ich Spanier bin, und du in mancher Hinsicht auch.«
»Mir ist der Zynismus der katholischen Kirche lieber als das Pharisäertum der kommunistischen Kirche. Wir Katholiken verurteilen…«
»Es lebe der zwanghafte Plural. Ich küsse dich, meine Liebste.«
»Spiel nicht den Clown, Jorge . Ich möchte dir sagen, daß wir die Verbrechen der Kirche verurteilen, weil sie eine bereits erfüllte Verheißung verraten, die eine Pflicht ist: die Nachfolge Christi. Die Kommunisten dagegen dürfen die Verbrechen ihrer Kirche nicht verurteilen, weil sie fühlen, daß sie eine in der Zukunft liegende Verheißung verraten, die noch nicht Gestalt angenommen hat.«
»Würdest du in einen religiösen Orden eintreten? Muß ich mich dann in einen Don Juan verwandeln, um dich im Kloster zu verführen?«
»Oh, mach keine Spaße. Halt die Hände still, Don Juan.«
»Nein, ich rede nicht im Spaß. Wenn ich dich richtig verstehe, gehört zur christlichen Reinheit die gehorsame Befolgung der Lehre Jesu, die man nur ganz einhalten kann, wenn man sich in ein Kloster zurückzieht. Get thee to a nunnery, Rachel!«
»Nein. Man muß sie in der Welt einhalten. Außerdem, wie soll ich Nonne werden, nachdem ich dich kennengelernt habe?«
Mit fast sakraler Andacht hatten sie gemeinsam die Vorlesungen Husserls gehört. Sie lernten von ihm, ohne dabei jedoch seine leitende Hand zu spüren, denn Husserl lenkte die Dinge diskret und von sich unabhängig, er arbeitete mit Studenten, die von ihm angeregt, aber frei waren, weil er ihnen Flügel verlieh.
»Mal sehen, Georg, was will der Meister sagen, wenn er von regionaler Psychologie‹ spricht?«
»Ich glaube, er meint die konkrete Daseinsform der Emotionen, der Akte, der Erkenntnis. Er verlangt von uns, mit unserer Meinung zurückzuhalten, solange wir nicht all diese Dinge als Urphänomene sehen, wie er sagt, ›aus Fleisch und Blut‹. Zuerst müssen wir die Augen weit offenhalten, um das zu beobachten, was uns in unserer ›Region‹ umgibt, dort, wo wir wirklich sind. Danach kommt die Philosophie.«
Nachts liefen sie lange durch die alte Universitätsstadt am Rand des Schwarzwalds, eingehend betrachteten sie die verschiedenen Seiten des gotischen Münsters und verirrten sich in den mittelalterlichen Passagen, gingen über die Brücken der Dreisam, die sich schnell mit dem Rhein vereinen wollte.
Freiburg war wie eine altehrwürdige Königin aus Stein, mit den Füßen im Wasser und einer Fichtenkrone, und die beiden Studenten durchstreiften die Stadt, erarbeiteten und verarbeiteten immer wieder die Lehren des Tages; er und sie, zuerst hielten sie sich am Arm und nun bei den Händen gefaßt, waren erstaunt, daß der Meister selbst diese Lehren gerade erst erarbeitete, nervös und großherzig, mit seiner hohen Stirn, die das sorgenvolle, bedrohliche Brauenrunzeln aufhellte, mit seiner geradlinigen Nase, die Ideen witterte, und dem großen Bart, der langgezogene Lippen bedeckte, sie waren so lang wie die eines philosophischen Tiers, ein Mutant, der dem nährenden Wasser der ersten Schöpfung entstiegen war und ein unbekanntes Land betreten hatte, der sich hartnäckig bemühte, mehr Ideen als die zur Sprache zu bringen, die eine Rede fassen konnte. Husserls Worte erreichten nicht die Schnelligkeit seines Denkens.
Alle nannten ihn »den Meister«. Er offenbarte sich ganz vor den Augen seiner Schüler, bot ihnen eine Philosophie ohne Dogmen, ohne Schlußfolgerungen, die stets Berichtigungen und die Kritik des Lehrers und seiner Schüler zuließ. Alle wußten, daß der Freiburger Husserl nicht der Hallenser Husserl war, als er
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