Die Jahre mit Laura Diaz
lange, da bin ich sicher«, setzte Maria de la O hinzu.
»Hauptsache, er beeilt sich, oder wir drei sterben als alte Jungfern«, lachte Virginia in sich hinein. »Das sollte der gute Mann wissen.«
Doch die wirkliche Einsamkeit lebte in Großmutter Dona Côsima. »Ich habe alles getan, was ich im Leben zu tun hatte, Felipe. Jetzt achte mein Schweigen.«
»Und deine Erinnerungen, nicht wahr?«
»Nicht eine einzige gehört mir allein. Ich teile sie alle mit dir. Alle.«
»Reg dich nicht auf. Das weiß ich.«
»Dann bewahre sie gut und bitte mich nicht, mehr Worte zu machen. Ich habe dir längst alle anvertraut.«
Das sagte Dona Côsima in jenem Jahr 1905, in dem sich die Ereignisse überstürzten.
Die schelmischen, witzigen, Unruhe stiftenden Ortsbewohner konnten – wenn der Heilige sie heimsuchte – sehr fromm sein, wie Pfarrer Morales gewußt hatte, was Pfarrer Almonte jedoch ignorierte. Mehr als die großen und kleinen Reichen der Gegend waren es die Armen, die Säer und Pflücker, die Netzknüpfer, die Fischer und Ruderer, die Maurer und vor allem die Frauen, die der Kirche die wertvollsten Spenden brachten.
Don Felipe und andere Kaffeepflanzer der Region spendeten Geld oder Säcke mit Lebensmitteln, die Ärmsten brachten Schmuck, jahrhundertealte Erbstücke, die sie opferten, um Unserem Herrgott für eigenes Wohlergehen oder fremdes Unglück, was sie beides als wunderbar ansahen, zu danken – Onyxketten, silberne Einsteckkämme, goldene Armreife, ungefaßte Smaragde: eine kostbare Fülle von Edelsteinen, die sie aus ihrem Versteck, Dachboden, Rucksack oder Keller, irgendeinem festgestampften, mit Matten bedeckten Fußboden oder einem geheimen Stollen geholt hatten.
Alles wurde sorgfältig gehortet, denn Pater Morales war gewissenhaft darauf bedacht, für seine Herde zu bewahren, was von ihr kam, und nur dann eines der wertvollen Stücke in Veracruz zu verkaufen, wenn er erfuhr, daß gerade jene Familie Geld benötigte, die das Schmuckstück dem Schwarzen Christus von Otatitlân dargebracht hatte.
Wie in allen Ortschaften an der Golfküste ehrte man die Heiligen, indem man auf einem Brettergerüst tanzte, um das Stampfen der Füße besser hören zu können. Die Luft füllte sich mit den Klängen von Harfe, Vihuela, Geige und Gitarre. Es war das Jahr : 905› daran erinnern sich alle, als am Festtag des Jesuskindes von Zongolica der Herr Pfarrer Elzevir Almonte nicht erschien, und als ihn der Sakristan aus der Kirche holen wollte, fand er weder den Priester noch den Schatz. Die Spendentruhe war leer und der Dorfpfaffe verschwunden.
»Mit Recht hat er gesagt: Puebla, Pflanzstätte von Heiligen, Veracruz, Pfarrei der Spitzbuben«, kommentierte, ironisch und selbstgefällig, Don Felipe Kelsen diese Geschichte. Der Ort äußerte sich unbarmherziger und beschimpfte den flüchtigen Priester als erbärmlichen Dreckskerl und Banditen. Die vier Kelsen-Töchter ließen sich nicht erschüttern, ohne den diebischen Pfarrer würde das Leben zur Normalität zurückkehren, die Kneipen und Bordelle würden wieder geöffnet, in ruhigen Mitternachtsstunden würde man Serenaden hören können, die Weggezogenen kämen zurück. Tatsächlich ging es von diesem Tag an mit der gedankenverlorenen Großmutter Cosima Reiter bergab, als hätte sie das Leben für einen Glauben vergeudet, der es nicht verdiente, und ihre Liebe, betonten böse Zungen hartnäckig, für einen ehrbaren Mann anstatt für einen romantischen Banditen.
»Laura, liebstes Mädchen«, sagte die Kranke einmal, als wollte sie nicht, daß das Geheimnis für immer verlorenging. »Wenn du diesen stattlichen Mann gesehen hättest, wenn du gesehen hättest, welches Feuer, welcher Mut…«
Sie sagte ihr nicht, Mädchen, laß dich immer in Versuchung führen, laß dich nicht erschrecken oder einschüchtern, nichts geschieht zweimal. Zwar sprach sie von Mut und Feuer, nicht aber von verführerischem Reiz, schließlich war sie eine sittsame Señora und eine mustergültige Großmutter. Laura Dïaz bewahrte die Lehre, die ihr die Großmutter gab, für immer im Herzen: Laß es nicht vorübergehen, Mädchen, laß es nicht…
»Nichts geschieht zweimal.«
Die kleine Laura betrachtete sich nicht im Spiegel, um in ihm die Versuchungen des verhaßten Pfarrers Almonte zu erblicken, die sie, wer weiß, warum, bloß zum Lachen brachten, sondern um in ihrer Gestalt ein verjüngtes Ebenbild oder wenigstens ein Vermächtnis ihrer lieben kranken Großmutter zu entdecken. Die Nase
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