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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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zu groß, sagte sie sich entmutigt, Gesichtszüge weich wie Pudding, funkelnde Augen, die nur deshalb reizvoll wirken, weil ich sieben bin. Die chinesische Puppe besaß eine ausgeprägtere Persönlichkeit als ihre kleine pausbäckige, umhertollende Herrin; ohne Leidenschaft, die einen Kuß verdient hätte, ohne Liebesglut, die eine Umarmung…
    Die vier Kelsen-Mädchen – drei ledige und eine verheiratete, doch was machte das in diesem Fall schon aus? – trugen Schwarz an dem Tag, als man ihre Mutter beerdigte. Leticia sah einen wunderbaren Vogel über das offene Grab fliegen, es war, als entkomme er seiner eigenen Beerdigung. »Seht, ein weißer Rabe!« rief sie.
    Die übrigen sahen auf, aber Laura, als gehorchte sie einer Anordnung ihrer toten Großmutter, rannte los, verfolgte den weißen Vogel und spürte, daß sie selber fliegen konnte, als riefe ihr der Albino-Rabe zu, folg mir, Mädchen, flieg mit mir, ich will dir etwas zeigen.
    An jenem Tag begriff das Mädchen, woher es kam, als hätte ihm die sterbende Großmutter Flügel gegeben, um in den Urwald zurückzukehren, wie in einem Spiel, ohne Aufsehen zu erregen. Laura wußte Bescheid. Sie hüpfte wie immer, und die Familie seufzte, als sie sah, wie sie sich entfernte: Sie ist noch ein Mädchen, was wissen Kinder über den Tod, sie hat Großmutter Cosima nicht in ihrer Glanzzeit erlebt, das tut sie nicht aus Bosheit.
    Der weiße Rabe flog über die bekannten Grenzen hinaus. Seitdem und für immer verstand und liebte sie alles, was sie sah und berührte, als wäre dieser Todestag nur dazu dagewesen, um etwas Einmaliges zu erfahren, etwas, das nur für sie und für das Alter bestimmt war, in dem Laura Dïaz in diesem Augenblick war. Sie war am zwölften Mai 1898 geboren, als die Heilige Jungfrau erschien, in einem weißen Kleid und mit ihrem Mantel.
    Sie verstand und liebte seitdem und für immer die Christpalmen, die westindische Tulpe, die chinesische Lilie, deren Zaubertriebe, jeder einzelne, dreimal im Jahr blühten: Sie verstand, was sie schon kannte, aber vergessen hatte: die rote Lilie, den Rotholzbaum, den runden Wipfel des Mangobaums; sie verstand, was sie nie gekannt hatte und woran sie sich nun zu erinnern glaubte, statt es neu zu entdecken: die vollkommene Symmetrie der Araukarie, die an jedem Sproß jedes einzelnen Astes ein getreues Abbild ihrer selbst hervorbringt, den Liguster mit den kleinen gelben Blüten, einen bewundernswerten Baum, der dem Orkan ebenso wie der Dürre trotzt.
    Sie wollte vor Entsetzen aufschreien, doch sie schluckte den Schrecken hinunter und ließ ihn zu Erstaunen werden. Sie war auf einen Riesen gestoßen. Die kleine Laura zitterte, schloß die
    Augen, berührte den Riesen. Er war aus Stein, ungeheuer groß, ragte mitten aus dem Wald hervor, war fester in ihm eingepflanzt als der Brotfruchtbaum oder sogar die Wurzeln des überall vordringenden Lorbeerbaums, der alles – Dränagen, Land, Kulturpflanzen – verschlang.
    Eine schlammbedeckte, gewaltige Frauenfigur blickte in die Ewigkeit, sie war mit Gürteln aus Schnecken und Schlangen verziert und trug eine Krone, die der Wald grün gefärbt hatte. Außerdem war sie mit Halsketten und –reifen, Arm-, Nasen- und Ohrringen geschmückt.
    Atemlos rannte die kleine Laura zurück. Zuerst wollte sie unbedingt von ihrer Entdeckung erzählen, diese Herrin des Waldes , war es, die den Armen ihre Juwelen schenkte, diese vergessene Gestalt war die Beschützerin der Güter des Himmels, die der widerwärtige Pfarrer Almonte – weg mit ihm, weg mit ihm –gestohlen hatte, und sie, Laura Dîaz, kannte nun das Geheimnis des Waldes. Doch dann begriff sie, daß sie es niemandem erzählen konnte, nicht jetzt und nicht ihrer Familie.
    Sie hörte auf zu rennen und ging langsam zurück nach Hause, über die welligen Hügel und die sanften, mit Kaffeesträuchern bepflanzten Berghänge. Im Patio des Hauses sagte gerade Großvater Felipe zu seinen Verwaltern, es bleibe nichts anderes übrig, als die Zweige des Lorbeerbaums abzuschneiden: »Sie fallen über uns her, als könnten sie sich bewegen, die Lorbeerbäume verschlingen die Dränage, sie werden sogar das Haus verschlucken. Und vor dem Haus: Wolken von Drosseln sammeln sich auf dem Wollbaum dort und verdrecken den Eingang, das darf nicht sein.« Außerdem komme die Zeit, in der sich die Kaffeepflanzungen mit Spinnweben bedeckten.
    »Man muß ein paar Bäume fällen.«
    Tante Virginia seufzte. Ganz unbefangen hatte sie den Schaukelstuhl

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