Die Jahre mit Laura Diaz
ihrer Mutter übernommen, obwohl sie nicht die Erstgeborene war. »Sie begreifen nicht«, sagte sie zu ihren Schwestern, »daß kein anderes Lebewesen das Alter eines Baums hat.«
Den Schwestern wollte Laura nichts erzählen, nur dem Großvater. Sie sah, daß er Sorgen hatte und wollte ihn unterhalten. Sie zog ihn an seinem schwarzen Gehrock: »Großvater, im Wald gibt es eine riesengroße Frau, die mußt du dir ansehen.« »Kleine, wovon sprichst du?«
»Ich bringe dich hin, Großvater, sonst glaubt mir keiner, komm, wenn du mitkommst, habe ich keine Angst vor ihr, dann umarme ich sie sogar.«
Ich umarme sie, dachte sie, und gebe ihr das Leben zurück, so heißt es in den Märchen, die mir meine liebe Großmutter immer erzählt hat, es genügt, eine Figur zu umarmen, um sie ins Leben zu rufen.
Zugleich machte sie sich Vorwürfe, das Geheimnis der großen Frau im Wald nur so kurze Zeit bewahrt zu haben.
Der Großvater nahm ihre Hand und lächelte. Eigentlich durfte er nicht lächeln an einem Trauertag, aber dieses hübsche Mädchen mit seinem langen, glatten Haar und den immer markanteren Gesichtszügen, das seine Pausbacken verlor und dessen zukünftige Gestalt der Großvater an diesem Tag vorausahnte, bevor Laura sie selbst in einem Spiegel sah oder auch nur von sich als erwachsener Frau träumte, Lauras überaus lange Beine und Arme und die auffällige Nase und die Lippen, die schmaler als die der gleichaltrigen Mädchen waren, Lippen wie die der schriftstellernden Tante Virginia. Dieses Mädchen war das wiedergeborene Leben, die zurückgekehrte Cosima, ein Leben, das in einem anderen überdauerte und das er, Felipe, behüten wollte, als Nachlaßverwalter einer Seele, die nach der liebevollen Erinnerung des Gefährten verlangte, Cosima und Felipe, um sich fortzusetzen und neues Leben im Leben eines anderen, ebendieses Mädchens zu finden, sagte sich der Alte gerührt – er war Sechsundsechzig und Cosima, als sie starb, siebenundfünfzig. Die beiden erreichten die Waldlichtung.
»Hier ist sie, Großvater.«
Don Felipe lachte. »Das ist ein Wollbaum, Mädchen. Wie bei uns vorm Haus. Paß auf, was für ein hübscher, aber ungeheuer gefährlicher Baum das ist. Merkst du es? Er ist mit Nägeln überzogen, natürlich sind es keine wirklichen Nägel, sondern dolchspitze Stacheln, die der Wollbaum wachsen läßt, um sich zu schützen, siehst du? Aus dem Leib des Wollbaums dringen Klingen hervor, der Baum bewaffnet sich, damit ihm niemand zu nahe kommt, damit ihn niemand umarmen kann.« Der Großvater lächelte. »Wie böse doch der Wollbaum ist!«
Dann trafen schlechte Nachrichten ein: Unter den Bergarbeitern in Cananea war ein Streik ausgebrochen, ein weiterer in der Textilfabrik in Rio Blanco, ausgerechnet im Staat Veracruz. Der Streik wurde vom Bundesheer niedergeschlagen, die Leichen der Streikenden transportierte man in offenen Güterwagen von Orizaba zum Meer, damit alle sie sehen konnten und die Warnung beherzigten.
»Glaubst du, daß Don Porfirio stürzt?«
»Ach was, er greift noch genauso energisch durch wie immer, obwohl er bald achtzig wird.«
»Patron, die Schattenbäume in den Pflanzungen müssen gefällt werden.«
»Wie schade, daß man einen Baum fällen muß, der dem Kaffee Schatten spendet.«
»Ja, wenn der Kaffee einen guten Preis hat. Jetzt sind die Preise ganz unten. Es ist besser, die Bäume zu fällen und ihr Holz zu verkaufen.«
»Das liegt wohl in Gottes Hand. Sie wachsen wieder nach.«
III. Veracruz: 1910
Er kam zu spät. Er kam zu früh. Immer zu spät oder zu früh. Unerwartet tauchte er zum Abendessen auf. Dann wieder kam er überhaupt nicht.
Kaum daß Leticia von ihrem Mann Fernando Dïaz nach Veracruz geholt worden war, diktierte sie auch schon, ohne daß es ihr überhaupt bewußt war, den Zeitplan und die Ordnung, die ihr Leben auf der Kaffeeplantage in Catemaco bestimmt hatten. So laut und chaotisch der Hafen sein mochte, die Sonne ging am See und am Meeresufer zur gleichen Zeit auf: Frühstück um sechs, Mittagessen um eins, Abendessen um sieben, oder ein Nachtessen, in besonderen Fällen, um neun.
Veracruz lieferte Leticia Kelsen die Vielfalt seiner Meeresfrüchte und Fische, und Lauras Mutter stellte sie wunderbar zusammen, die Tintenfische in ihrer Tinte und mit weißem Reis, die gebackenen Bananenscheiben, selbstverständlich mit zweimal gekochten Bohnen, den weißen Huachinango aus dem Golf, der zwischen Zwiebeln, Pfefferschoten und Oliven schwamm, das
Weitere Kostenlose Bücher