Die Jahre mit Laura Diaz
sondern im Bett des Vaters, der bisher für sich gewesen war, und ließ das Mädchen allein, das natürlich nicht bei ihrem Halbbruder schlafen konnte (was ihr erster, naiver Wunschtraum gewesen war). Kann man die Wellen der See mit Gittern verschließen?
»Wir Frauen in den Tropen reifen sehr schnell heran, Fernando. Ich habe dich mit siebzehn Jahren geheiratet.«
Leticia sagte nicht die ganze Wahrheit, in den Gesichtern ihrer leiblichen Schwestern und ihrer Halbschwester konnte sie das Gegenteil lesen. Den dreien war das Schicksal alter Jungfern bestimmt, weil sie etwas anderes sein wollten, Virginia Schriftstellerin, Hilda Konzertpianistin, und obwohl sie wußten, daß sie das nie erreichen würden, wollten sie doch nie darauf verzichten. Ihre stumme und schmerzliche Hingabe nötigte sie, Gedichte zu schreiben und Klavier zu spielen, im Kreis von Lesern und Hörern, die unsichtbar waren, außer den beiden Personen, an die ihre Sonette und Sonaten wie ein Vorwurf gerichtet waren: Felipe und Côsima. Maria de la O hingegen würde aus einfacher Dankbarkeit nie heiraten. Cosima hatte sie vor einem unseligen Geschick bewahrt. Maria würde auf immer treu bei der Familie ausharren, die ihr Schutz gewährte. Als junges Mädchen hatte Leticia schnell die Regeln vorteilhaften Schweigens in einem Haus gelernt, in dem Glück und Unglück so ungleich zwischen dem Vater Don Felipe, der Mutter Cosima und den Schwestern verteilt waren, und sie beschloß, so schnell wie möglich und so gut wie ohne Vorbedingungen zu heiraten, um dem Schicksal zerronnener, grauer konturloser Träume zu entgehen, das aus den drei Frauen in Catemaco Schauspielerinnen einer Pantomime im Nebel machte. Sie heiratete Fernando und rettete sich vor einem Leben als alter Jungfer. Sie bekam eine Tochter und rettete sich vor der Unfruchtbarkeit. Und doch blieb sie bei ihren Leuten und rettete sich – das war ihre Entschuldigung – vor der Undankbarkeit. Ihr Mann Fernando verstand sie, und weil er selbst Zeit brauchte, um aufzusteigen und Leticia und Laura ein schönes Leben bieten zu können, ohne seinem Sohn Santiago die Fürsorge vorzuenthalten, die ein mutterloses Kind beanspruchte, schien die eigentümliche Vereinbarung Fernando und Leticia nicht nur vernünftig, sondern auch erträglich.
Und nur so konnte Fernando schließlich seinem Schwiegervater Felipe Kelsen helfen, als das vorgerückte Alter des Präsidenten Porfirio Dïaz, die blutig unterdrückten Streiks, die ersten revolutionären Erhebungen im Norden des Landes, die anarcho-syndikalistischen Umtriebe gerade in Veracruz, Don Porfirios unpassende Erklärungen gegenüber dem nordamerikanischen Journalisten Creelman (»Mexiko ist reif für die Demokratie«) und die Kampagne Maderos und der Brüder Flores Magon gegen Dïaz' Wiederwahl zu wachsender Unruhe auf den Märkten führten. Veracruz fiel in der Konkurrenz mit der kubanischen Zuckerindustrie zurück, die sich nach dem blutigen Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten wieder erholt hatte. Zudem fielen plötzlich die bislang üblichen Kredite für die in Mexiko ansässigen deutschen Unternehmer durch die Deutsche Bergwerksgesellschaft in Mexico-Stadt weg. In Europa würde es womöglich Krieg geben. Der Balkan stand in Flammen. Frankreich und England hatten die Entente cordiale und Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn den Dreibund abgeschlossen: Man brauchte nur noch die Schützengräben auszuheben und auf den Funken zu warten, der Europa in Brand stecken würde. Das Kapital wurde ausschließlich darauf verwandt, den Krieg zu finanzieren und die Preise hochzutreiben, nicht um deutschmexikanische Plantagen mit Krediten zu versorgen.
»Ich habe Zweihunderttausend Kaffeesträucher, die eintausendfünfhundert Zentner abwerfen«, sagte Don Felipe. »Was mir fehlt, ist ein Kredit, was mir fehlt, ist Bargeld.«
Er solle sich keine Sorgen machen, antwortete ihm sein Schwiegersohn Fernando. Er sei zum Direktor der Banco de la Repûblica in Veracruz befördert worden und würde sich um einen Kredit für Don Felipe und die prächtige Plantage »La Peregrina« kümmern. Die Bank bekomme ihr Geld dadurch zurück, daß sie die Ernte an die Handelsfirmen im Hafen liefere, für die Verkäufe eine Provision einbehalte und die Gewinne der Plantage der Kelsens gutschreibe. Leticia könne nun endlich zusammen mit der kleinen Laura bei ihm, Don Fernando Dïaz, und seinem Sohn Santiago leben, sie alle glücklich unter dem schützenden Dach der
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