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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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sich beide, Laura und Juan Francisco, im anderen wiedererkannten und so verrieten, daß sie insgeheim Santiago den Jüngeren mit der gleichen Liebe betrachteten und dasselbe dachten: Er hat alles, Schönheit, Talent, Seelengröße, alles außer Gesundheit, alles außer dem Leben und der Zeit, es zu leben. Erst jetzt entdeckten Vater und Mutter, daß sie beide es ablehnten, Santiago zu bemitleiden, weil niemand das Recht hatte, jemanden in diesem Haus zu bedauern. Durch Mitleid kann man einen geliebten Menschen verraten.
    Hast du dich deshalb so auffällig Danton zugewandt, Juan Francisco?
    Laura hatte sich gerühmt, wie beredt das Schweigen zwischen Mutter und Sohn war. Einsamkeit und Ruhe hatten sie vereint. Galt das auch für die Beziehung zwischen Juan Francisco und Santiago? War es eine Beleidigung, wenn man sich klar über das äußerte, was geschah? War es Verrat? Mutter und Sohn hatten ein ganzes Knäuel von Komplizenschaften, Vorahnungen, Dankbarkeit erlebt, alles außer Mitleid, dem verdammten, verbotenen Mitleid… Hatte der Vater der beiden Söhne das gleiche aus der Ferne erlebt und gefühlt, während er den anderen Sohn feierte?
    Jede Mutter weiß, daß es Kinder gibt, die auf sich allein aufpassen können. Jeder Versuch, sie zu beschützen, ist eine Zudringlichkeit. So war Danton. Die Nähe des Vaters kam ihm wie eine Anmaßung vor. Juan Francisco verstand nichts, dem Sohn, der nichts verlangte, gab der Vater alles, diesem Danton, der schon als kleines Kind den ganzen Tag herumgetollt war und sich nicht darum gekümmert hatte, was im Schatten und Schweigen des Elternhauses geschah, in dem sein Bruder wohnte. Laura wußte zwar instinktiv, daß Danton keine Fürsorge brauchte, dafür aber Santiago, daß es für den schwachen Jungen jedoch verletzender und schädlicher als für den starken gewesen wäre, wenn man sie ihm übermäßig gezeigt hätte. Der eine Sohn, Danton, bewegte sich in der Welt und vereinnahmte alles zu seinem Vorteil. Der andere, Santiago, schloß alles aus, außer dem, was ihm wesentlich schien für seine Malerei, seine Musik, seine Dichtung, seinen van Gogh und seinen Egon Schiele, seinen Baudelaire und seinen Rimbaud, seinen Schubert.
    Als Laura nun beide, Vater und Sohn, Juan Francisco und Danton, am schönen, asketischen Leichnam des jungen Santiago weinen sah, begriff sie, daß sich die Brüder geliebt hatten, jedoch mit dem Schamgefühl, sich nicht beim anderen einzuschmeicheln; die brüderliche Gemeinschaft ist auf eine andere Art männlich, die brüderliche Gemeinschaft muß manchmal bis zum Augenblick des Todes warten, um sich als Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit zu beweisen. Laura Dïaz machte sich Vorwürfe. Hatte sie alle Glorie dieser Welt geraubt, um sie nur Santiago zu schenken? War alles nur für den Schwachen dagewesen, verdiente der Starke nichts? Hatte sie nun in Wirklichkeit beide Söhne verloren?
    »Weißt du«, sagte Juan Francisco nach dem Begräbnis, »in einer Nacht habe ich sie überrascht, wie sie ein Männergespräch führten. Beide sagten, wir kommen allein zurecht. Sie erklärten sich unabhängig von dir und mir, Laura. Was ist das für eine Geschichte, wenn du deine Jungen im Augenblick der Unabhängigkeitserklärung überraschst? Wobei nur Santiago es ernst meinte. Er kam allein zurecht. Danton nicht. Danton braucht Erfolg, Geld, Gesellschaft. Er kommt nicht allein zurecht, er täuscht sich. Deshalb braucht er uns mehr als je zuvor.«
    Würde genug Zeit bleiben, um die Fehler eines dreißigjährigen gemeinsamen Lebens wiedergutzumachen, in denen zwei Kinder aufwuchsen, von denen das eine nun schon tot war? Vor dem Tod hatte Santiago ein Gedicht geschrieben, Laura zeigte es Juan Francisco und wies ihn vor allem auf eine Zeile hin, in der es hieß: »Wir sind übersetzte Leben.« Was wollte er damit sagen? Was bedeuteten die alltäglichen Sätze des Jungen: »Laß den Vogelkäfig nicht offen, Vögel lieben ihr Zuhause und bleiben da, Katzen nicht, die verschwinden und kommen zurück, um anderen zu schaden.« – »Nicht immer scheint mir die Sonne auf den Kopf.« Vielleicht bedeuteten sie, daß sich Santiago von sich selbst lösen, sich wandeln und den anderen entdecken konnte, der in ihm war. Sie entdeckte ihn auch, doch sie sagte es ihm nicht.
    »Und du, Juan Francisco?«
    »Meine Söhne sind mein Leben, Laura. Ich habe kein anderes.«
    »Und ich?«
    »Du auch, meine Alte.«
    Bestand darin das Geheimnis Juan Franciscos, daß sein Leben ohne Geheimnis war,

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