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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Direktion der Banco de la Repûblica in Veracruz vereint.
    Wie anders war es für Laura, in einem von Straßen umgebenen Haus und nicht auf dem Land zu leben, den ganzen Tag unbekannte Leute unter den Balkons vorbeilaufen zu sehen, im zweiten Stock zu wohnen und das Büro eine Etage tiefer zu haben, die Stäbe des Balkons abzulecken, weil sie nach Salz schmeckten, und das geruhsame, bleifarbene, dickflüssige Meer vor Veracruz zu betrachten, das erglänzte, wenn es sich vom letzten Sturm erholte, wobei es sich schon auf den nächsten vorbereitete und heißen Dunst und keine Kühle ausströmte wie der See; der Urwald, den die juwelengeschmückte Riesin beherrschte, die sie gesehen und nicht geträumt hatte, sie war kein Wollbaum, Großvater Felipe mußte Laura für eine dumme Gans halten.
    »Dicke Wände, das Geräusch fließenden Wassers, Zugluft und viel heißer Kaffee: das ist der beste Schutz gegen die Hitze«, verkündete Leticia immer selbstsicherer, nun, da sie endlich Hausherrin und von der väterlichen Vormundschaft befreit war, um in ihrem Ehemann das zu finden, was sie damals an ihrem Bräutigam so fasziniert hatte, als sie sich bei den Fiestas zu Maria Lichtmeß in Tlacotalpan kennenlernten.
    Er war ein zärtlicher Mann, erfolgreich und gewissenhaft in seiner Arbeit, entschlossen, sich selbst zu übertreffen. Er las englische und auch französische Zeitschriften, obwohl er eher England als Frankreich bewunderte. Dabei war er sich einer merkwürdigen Lücke bewußt, die ihn daran hinderte, die Mysterien des Lebens zu verstehen, jene Geheimnisse, die ein wesentlicher Teil jeder Persönlichkeit sind, ohne voreilig über Gut und Böse zu urteilen. Er las viele Romane, um diesen Mangel zu überwinden. Am Ende jedoch blieben die Dinge für Fernando, was sie waren: die pünktliche Arbeit und Selbstüberwindung eine Pflicht, Vergnügungen etwas Maßvolles und die Persönlichkeiten, die eigene oder die fremde, ein Mysterium, das es zu respektieren galt.
    Die Seele seiner Mitmenschen zu ergründen, das bedeutete für diesen gebildeten fünfundvierzigjährigen Mann Klatsch und Schnüffelei alter Lästerzungen. Leticia liebte ihn, weil sie als Dreißigjährige, wenn sie ihn auch schon mit siebzehn geheiratet hatte, sämtliche Vorzüge mit ihm teilte und doch wie auch er dem Mysterium der anderen, der »übrigen«, hilflos gegenüberstand. Als sie jedoch einmal diesen Ausdruck benutzte – »die übrigen« –, ließ Fernando den Roman Thomas Hardys fallen, den er gerade las, und erklärte ihr: »Sag niemals ›die übrigens das klingt so, als wären sie überflüssig, zuviel. Ich rate dir, die Leute immer beim Namen zu nennen.«
    »Selbst wenn ich sie nicht kenne?«
    »Denk dir was aus. Das Gesicht oder die Kleidung sagen genug darüber, wer jemand ist.«
    »Der Schieler, der Schlampige, der Straßenkehrer?« Leticia lachte und ihr Mann ebenfalls, mit seiner eigentümlichen wortlosen Heiterkeit.
    Der Protz. Diesen Spitznamen hatte Laura von klein auf für den Chinaco gehört, der ihrer lieben Großmutter Côsima die Finger abgehackt hatte. Das nun wollte sie ihrem schönen Halbbruder anvertrauen (ich will es ihm heimlich sagen, dachte sie), der um zwölf Uhr mittags ganz weiß gekleidet war, mit steifem Stehkragen und Seidenkrawatte, Leinenjacke und -hose und hohen, schwarzen, kompliziert geschnürten Stiefeln. Seine Gesichtszüge waren mehr als regelmäßig, sie besaßen eine aufsehenerregende Symmetrie, die Laura an jene der Araukarienzweige im Urwald erinnerte. Die eine Hälfte glich der anderen aufs Haar, wie ein Schatten, der, sobald Santiago morgens aufstand, ihn als ein vollkommener, nie abwesender, nie gekrümmter, immer an seiner Seite bleibender Zwilling begleitete.
    Als wollte er die Vollkommenheit eines Gesichts widerlegen, dessen eine Hälfte genau der anderen entsprach, trug Santiago eine zerbrechliche Brille mit einer versilberten, kaum wahrnehmbaren Fassung, die seinen Blick tiefer wirken ließ, ohne ihn zu verändern, wenn er sie abnahm. Santiago konnte mit ihr spielen, sie eine Minute in der Jackentasche verstecken, sie in der nächsten als Pfeil benutzen, sie in die Luft werfen und gleichgültig auffangen, bevor er sie in die Tasche zurücksteckte. Laura hatte niemals einen solchen Menschen gesehen.
    »Ich bin mit dem Gymnasium fertig. Mein Vater hat mir ein Sabbatjahr bewilligt.«
    »Was ist das?«
    »Ein freies Jahr, damit ich ernsthaft über meinen Berufsweg entscheiden kann. Ich lese. Du siehst

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