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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Garfinkle, so hieß er ursprünglich. Wir sind zusammen in New York aufgewachsen. Wenn du ein jüdischer Junge von der Lower East Side in Manhattan bist, wirst du mit Augen, Nase, Mund, Ohren, Händen und Füßen, einem ganzen Körper eben, geboren, doch dazu kommt etwas, das nur wir haben: ein kleiner Stein auf der Schulter, a chip on the shoulder, der den Fremden herausfordert (und wer ist kein Fremder, wenn du in einem Viertel wie unserem geboren wirst), daß er ihn dir mit einem Hieb oder einem behutsamen, geringschätzigen Fingerschnipsen herunterholt, jenes Steinchen, das wir alle auf der Schulter tragen, und dabei wissen wir genau, daß man es dort nicht irgendwann hingelegt hat, wir wurden damit geboren, es ist ein Auswuchs unseres gedemütigten, armseligen Fleisches von italienischen, irischen oder jüdischen (polnischen, russischen, ungarischen, aber immer jüdischen) Einwanderern, man erkennt es noch deutlicher, wenn wir uns ausziehen, um zu duschen oder zu lieben oder schlaflos zu ruhen, und wenn wir uns anziehen, sticht der Splitter auf der Schulter durch den Stoff des Hemdes oder der Jacke, er dringt hervor, zeigt sich und sagt der Welt: Wage es, mich zu stören, wage es, mich zu beleidigen, mich zu schlagen, mich zu demütigen, wage es nur.
    Ich kannte Jacob Julius Garfinkle seit meiner Kindheit, und sein Steinchen auf der Schulter war größer als bei jedem anderen. Er war klein, braun, ein dunkelhäutiger Jude mit Stumpf nase und lächelnden, dabei grausamen Lippen, die spöttisch und gefährlich wie seine Augen aussahen, er bewegte sich wie ein kleiner Kampfhahn, ratterte die Worte wie ein Maschinengewehr heraus und war ständig auf der Hut, weil hinter jeder Straßenecke, an jeder Tür eine Herausforderung lauerte, ein Unglück konnte ihn von einem Dach aus, vom Ausgang einer Bar, am morschen Rand einer Flußmole treffen. Julie Garfinkle brachte die verfluchten Straßen und die dunklen Kanalisationen New Yorks auf die Bühne, er zeigte, daß er nackt und verwundbar, doch ungeheuer mutig war, um sich gegen die Ungerechtigkeiten zu wehren und zur Verteidigung all jener anzutreten, die wie er in den riesigen Ghettos, den ewigen Judenvierteln der abendländischen Kultur‹ geboren wurden. Ich lernte ihn auf der Bühne kennen. Er war der ›Goldjunge‹ in Clifford Odets' Stück Golden Boy, der junge Geiger, der auf sein Talent verzichtet, um im Boxring zu siegen, der seine Hände, Finger und Fäuste einbüßt, so daß er es am Ende weder mit Felix Mendelssohn (der auch Neger war) oder Joe Lewis (der auch Jude war) aufnehmen konnte. Er unterschrieb alles. Wenn man ihm sagte: ›Paß auf, Julie, wie ungerecht man die Juden behandelt, die Schwarzen, die Mexikaner, die Kommunisten, Rußland, das Vaterland des Proletariats, die armen Kinder, die Onchozerkosekranken in Neuguineas dann unterschrieb Julie, er unterschrieb alles, und sein Namenszug war kräftig, kantig, kategorisch, er war eine Liebkosung wie ein Faustschlag, ein Schweißtropfen wie eine Träne, so war mein Freund Julie Garfinkle.
    Als man ihn nach seinem Erfolg im Group Théâtre in Hollywood engagierte, blieb er derselbe, der Don Quijote von der Straße, er spielte sich selbst und faszinierte sein Publikum. Er war nicht schön und nicht elegant, nicht höflich und nicht ironisch, er war nicht Cary Grant oder Gary Cooper, er war ›John Garfield‹, der rauflustige Bursche von der Lower East Side, der in Beverly Hills wiedergeboren wurde, um mit schlammverschmierten Schuhen die von Rosenhecken umgebenen Luxusvillen zu betreten und seine dreckigen Füße in die kristallklaren Swimmingpools zu stecken. Deshalb war seine beste Rolle die in Humoresque, als er zusammen mit Joan Crawford spielte. Er wurde wieder, was er zu Anfang gewesen war, der arme Junge, der ein talentierter Geiger war. Aber sie, die genauso war wie er, spielte die reiche Aristokratin, die Mäzenin des jungen, aus der unsichtbaren Stadt aufgetauchten Genies, dabei war sie ebenso gedemütigt wie er, eine, die wie er den Randzonen der Gesellschaft entflohen war, die nur vorgab, eine reiche, kultivierte, elegante Frau zu sein, kein Mädchen von der Straße, keine Aufsteigerin mit harten Krallen und weichem Hintern. Deshalb waren sie ein so explosives Paar: weil sie einander ähnelten, sich aber voneinander unterschieden. Joan Crawford und John Gar-field, sie verstellte sich, er nicht.
    Als dann die Hochflut McCarthys aus den Abwasserkanälen Amerikas hervorschwappte, schien Julie

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