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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Harry bestrafen, wenn er das Bett ungemacht ließ.
    Drei offene, mit Kleidungsstücken, Papieren und Büchern vollgestopfte Koffer lagen herum und bildeten einen deutlichen Gegensatz zum peinlich ordentlichen Bett.
    »Warum nimmst du deine Sachen nicht aus dem Koffer?«
    Er zögerte mit der Antwort.
    »Warum?«
    »So kann ich jeden Moment fortgehen.«
    »Und wohin?«
    »Home.«
    »Nach Hause? Aber wo du doch kein Zuhause mehr hast, Harry, das hier ist dein Zuhause, hast du das noch nicht begriffen? Das hier ist dein Zuhause, alles übrige hast du verloren«, rief Laura in verdächtig gereiztem Ton.
    »Nein, Laura, nein, du weißt nicht, in welchem Moment…«
    »Warum setzt du dich nicht hin und arbeitest?«
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Laura. Ich warte.«
    »Arbeite«, sagte sie, während sie sagen wollte: »Bleib hier.«
    »Ich warte. Jeden Moment. Any moment now. «
    Sie gab sich Harry aus vielen Gründen hin, wegen ihres Alters und weil sie mit keinem Mann mehr geschlafen hatte seit der Nacht, in der sich Basilio von ihr verabschiedet hatte, bevor er ins Vassar College zurückkehrte. Sie mußte nicht darum bitten, ebensowenig wie Basilio, es war ein schlichter Gedenkakt, eine Ehrung für Jorge  Maura und Pilar Méndez, bei der nur sie und er anwesend waren, Laura und Basilio, zärtlich und respektvoll vertraten sie die abwesenden Geliebten, und doch weckte der Liebesakt, den sie aus Liebe zu anderen begingen, in Laura Dïaz eine allmählich wachsende Begierde, ein erotisches Verlangen, von dem sie geglaubt hatte, daß es zwar nicht verloren, aber überwunden wäre: vom Alter, ihrem Schamgefühl, der Erinnerung an die Toten und dem Aberglauben, daß die zwei Santiagos, Jorge  Maura und Juan Francisco sie von einem dunklen Land aus überwachten – die Toten und Verschwundenen, die an einem Ort lebten, an dem die einzige Beschäftigung darin bestand, diejenige zu überwachen, die in der Welt geblieben war: Laura Dïaz.
    »Ich will nichts tun, was meine Selbstachtung verletzt.«
    »Self-respect, Laura?«
    »Self-respect, Harry.«
    Daß Harry nun in Cuernavaca bei ihr war, weckte in ihr eine neuartige Zärtlichkeit, die sie sich zunächst nicht genau erklären konnte. Vielleicht entstand sie aus den Blicken, die sie bei den Treffen am Wochenende miteinander wechselten, niemand sah ihn an, er sah niemanden an, bis Laura kam und die beiden einander anblickten. Hatte nicht so auch ihre Liebe zu Jorge  Maura begonnen, daß sich ihre Blicke bei einem Fest im Haus Diego Riveras und Frida Kahlos begegneten? Wie sehr unterschied sich jener kraftvolle Blick ihres spanischen Geliebten von der Schwäche, die nicht nur den Blick, sondern auch den Körper dieses traurigen, verunsicherten, verletzten, gedemütigten und nach Zuneigung dürstenden Nordamerikaners beherrschte?
    Laura umarmte ihn in dem Häuschen über der Schlucht, als die beiden auf seinem Bett saßen, sie umarmte ihn wie ein Kind, umschlang seine Schulter mit ihrem Arm, ergriff seine Hand, wiegte ihn beinahe wie ein Neugeborenes, bat ihn, den Kopf zu heben, er solle sie ansehen, sie wollte den wahren Blick Harry Jaffes sehen, nicht die Maske des Exils, der Niederlage und des Selbstmitleids.
    »Erlaube mir, daß ich deine Sachen in die Schubladen räume.«
    »Don't mother me, zum Teufel mit dir.«
    Er hatte recht. Sie behandelte ihn wie ein schwaches, zaghaftes Kind. Sie mußte ihn spüren lassen, »daß du ein Mann bist, daß ich dir das Feuer entlocken will, das dir bleibt, Harry. Wenn du nicht mehr leidenschaftlich nach Erfolg, Arbeit, Politik und anderen Menschen verlangst, bleibt dir womöglich, versteckt und spöttisch wie ein Kobold, allein das Geschlecht – unfähig, nein zu sagen – als der einzige Teil deines Lebens, Harry, der weiter ja sagt, ob aus rein animalischem Trieb oder vielleicht auch, weil deine Seele und meine Seele kein anderes Bollwerk mehr als das Geschlecht besitzen, auch wenn es ihnen nicht bewußt ist.«
    »Manchmal stelle ich mir die Geschlechtsteile als zwei winzige Zwerge vor, die die Nase zwischen unseren Beinen hervorstrecken und sich über uns lustig machen, uns herausfordern, sie aus ihrer tragikomischen Nische zu reißen, während sie genau wissen, daß sie uns noch so sehr quälen können, wir werden trotzdem immer mit ihnen, den winzigen Zwergen, zusammenbleiben.«
    Sie wollte ihn mit nichts und niemandem vergleichen. Sie widersetzte sich jedem Vergleich. Da war er. Was sie sich vorstellte. Was er vergessen hatte.

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