Die Jahre mit Laura Diaz
war.
Laura spürte, daß Harrys Blicke auf sie gerichtet sein mochten, weil sie neu war, anders, unschuldig. Sie wußte nicht, was die übrigen wußten. Doch alle behandelten Harry mit vollendeter Höflichkeit. Harry war an jedem Wochenende bei den Beils. Jeden Sonntag saß er zusammen mit den übrigen Emigranten beim Abendessen. Nur, daß ihn niemand ansah. Und wenn Harry sprach, tat er es schweigend, stellte Laura beunruhigt fest, niemand hörte ihm zu, deshalb schien es so, als spräche er gar nicht: weil niemand ihn hörte, außer ihr, außer mir, Laura Dïaz, ich schenke ihm Beachtung, und darum hörte nur sie, was der einsame Mann sagte, ohne daß er dabei den Mund aufmachen mußte.
Zu wem hatte er wohl früher gesprochen? Zur Natur? Die war in Cuernavaca ebenso üppig wie die Veracruzaner Landschaft in Laura Dïaz' Kinderzeit, wenn sie sich auch völlig von ihr unterschied.
Es war eine ruhelose Natur, die nach Bougainvilleen und Eisenkraut, nach frisch zerschnittener Ananas und blutender Melone duftete; es roch nach Safran, aber auch nach Kot und Müll, der sich in den tiefen Schluchten rings um jeden Garten, jedes Stadtviertel, jedes Haus ansammelte… Ob der kleine New Yorker Jude Harry Jaffe, der von Manhattan nach Spanien, von Spanien nach Hollywood und von Hollywood nach Mexiko gegangen war, zu jener Natur gesprochen hatte?
Diesmal war Laura die Fremde im eigenen Land, die andere, zu der dieser sonderbar ruhige, einsame Mann sprechen konnte, nicht mit lauter Stimme, sondern mit einem Murmeln, und sie lernte immer besser, es ihm von den Lippen abzulesen, je mehr sie sich anfreundeten und je öfter sie aus der roten Bastion der Beils in den stillen Borda-Park überwechselten, danach auf die lärmende Plaza und zum leicht und unbewußt berauschenden Kaffee, den sie im Freien vor dem Hotel Marik tranken, in die weltabgeschiedene Einsamkeit der Kathedrale.
Dort wies Harry sie darauf hin, daß die frommen und kitschigen Wandbilder aus dem vorigen Jahrhundert Fresken verbargen, die man übermalt hatte, weil die klerikale Geschmacklosigkeit und Heuchelei sie als primitiv, grausam und wenig gottes-fürchtig ansah.
»Weißt du, was sie zeigen, weißt du das?« fragte Laura, ohne ihre Neugier und Überraschung zu verheimlichen.
»Ja, ein zorniger, ein sehr zorniger Pfarrer hat es mir erzählt. Was siehst du dort?«
»Das Heiligste Herz Jesu, die Jungfrau Maria, die Heiligen Drei Könige«, sagte Laura und mußte an Pater Elzevir Almonte und die Schätze des Jesuskindes von Zongolica denken. »Weißt du, was es darunter gibt?« »Nein.«
»Die Missionsreise des einzigen mexikanischen Heiligen, Philippus von Jesus, von dem seine Amme gesagt hat: ›An dem Tag, an dem die Christpalme blüht, wird der kleine Philipp ein Heiligere«
»Als ich ein kleines Mädchen war, hat mir ein Diener, den ich sehr liebhatte, Zampayita, diese Geschichte erzählt.«
»Philippus ging im siebzehnten Jahrhundert nach Japan, um das Evangelium zu predigen. Da werden gefährliche und schreckliche Szenen geschildert, doch sie sind verborgen. Die stürmische See. Kenternde Schiffe. Die heldenhafte und einsame Predigt des Heiligen. Schließlich seine Kreuzigung durch die Ungläubigen. Sein langer Todeskampf. Ein großer Film.«
All das war zugedeckt. Von der Frömmigkeit. Von der Lüge. »Ein pentimento, Harry?«
»Nein, kein reuevolles Werk, sondern eines, das hochmütig die Wahrheit überlagert, ein Triumph der Scheinheiligkeit. Ein ganzer Film, sage ich dir.«
Er lud sie zum erstenmal in das kleine Haus ein, das er nicht weit vom Hauptplatz in einem Mangrovenhain gemietet hatte. In Cuernavaca brauchte man sich nur ein paar Meter von den Alleen zu entfernen, um Häuser zu entdecken, die beinahe Höhlen waren und sich hinter hohen, indigoblauen Mauern versteckten, wahrhaftige, verschwiegene Oasen, wo grüne Rasenflächen, rote Dächer, ockerfarbene Fassaden und Wälder, die sich bis zu schwarzen Schluchten hinabzogen, miteinander abwechselten. Es roch nach Feuchtigkeit und verrottendem Urwald. Harrys Grundstück bestand aus einem Garten, einer Terrasse mit Ziegelsteinen, die tagsüber heiß und nachts eiskalt waren, einem roten Dach, einer Küche, in der reglos eine schweigsame Alte saß, die einen Palmblattfächer in der Hand hielt, und einem Wohn- und Schlafzimmer, dessen Abteilungen mit Vorhängen voneinander getrennt waren, die aus dem Bett mit den sorgfältig glattgestrichenen Laken ein Mysterium machten, als würde jemand
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