Die Jahre mit Laura Diaz
Unschuldiger zu Elend, Krankheit und Selbstmord verurteilt haben.«
»Selbst die Denunzianten, Harry?«
»Das waren die elendesten Opfer. Sie tragen das Kainszeichen an der Stirn.«
Harry nahm ein Messer aus der Obstschale und schnitt sich in die Stirn.
Und Laura sah ihm entsetzt zu, doch sie hinderte ihn nicht daran.
»Sie müssen sich Hand und Zunge abschneiden.«
Harry steckte sich das Messer in den Mund. Laura schrie und hielt ihn zurück, riß ihm das Messer aus der Hand und umarmte ihn schluchzend.
»Und sie sind zu Exil und Tod verurteilt«, flüsterte Harry beinahe lautlos in Lauras Ohr.
Laura hatte schnell gelernt, Harrys Gedanken zu lesen, und dieser die Lauras. Ihnen halfen die sich pünktlich ablösenden Tropengeräusche. Sie kannte sie seit ihrer Kindheit in Veracruz, hatte sie aber in der Hauptstadt vergessen, wo alle Geräusche zufällig und unvorhergesehen kommen, wo sie stören und quietschen wie ein paar boshafte Fingernägel, die in der Schule über die Wandtafel kratzen. In den Tropen hingegen kündigt das Zwitschern der Vögel den Morgen und ihr symmetrischer Flug die Dämmerung an, die Natur verbrüdert sich mit den zur Frühmesse und zum Vespergottesdienst rufenden Glockenklängen, die Vanillepflanzungen erfüllen alles ringsum mit Duft, worauf wir nur hin und wieder achten, und die geernteten Fruchtbüschel verleihen den Kammern, in denen man sie aufbewahrt, ein urtümliches und zugleich hochkultiviertes Aussehen. Als Harry beim Frühstück die Spiegeleier mit Pfeffer bestreute, betrachtete Laura den blühenden Pfefferstrauch im Garten, die gelben Juwelen, die in einer zarten, luftigen, dämmerfarbenen Krone steckten. In den Tropen gab es keine Brüche. Man kam vom Garten zum Tisch; man brachte Skorpione um, zuerst im Haus, dann spürte man sie vorsichtshalber bereits im Garten auf, später unter den Steinen. Das waren weiße Gliederfüßer, und Harry lachte, wenn er sie zertrat.
»Meine Frau hat mir immer gesagt, ich sollte mich ab und zu sonnen: ›Du hast einen weißen Bauch wie ein Fischfilet vor dem Braten.‹ So sind diese Skorpione.«
»Einen Bauch wie ein Schnapperfisch«, sagte Laura lachend.
»›Hör damit auf‹, hat sie mir gesagt, ›das ist nicht deine Sache, du glaubst nicht daran, und soviel sind deine Freunde nicht wert.‹ Und dann kam sie wieder mit ihrer alten Geschichte: ›Dein Problem ist nicht, daß du Kommunist bist, sondern daß du dein Talent verloren hast, Harry.‹«
Trotzdem setzte er sich wieder hin und schrieb: Wenn etwas gesagt und getan war, mußte er es noch aufschreiben, und in Tepoztlân arbeitete er regelmäßiger daran. Als Ausgangspunkt benutzte er seine Kurzbiographien einiger Opfer, wie etwa Garfields und Brombergs, die seine Freunde gewesen waren. Warum schrieb er nicht über seine Feinde, die Inquisitoren? Warum schrieb er nur über die geschädigten, vernichteten Opfer wie Garfield und Bromberg, jedoch nicht über die, die das Drama bewältigt hatten, die nicht weinten, sondern kämpften, die Widerstand leisteten und vor allem die monströse Dummheit der ganzen Geschichte verspotteten? Dalton Trumbo, Albert Maltz, Herbert Biberman… Die nach Mexiko kamen, Cuernavaca besuchten oder sich dort niederließen. Warum sprach Harry Jaffe so gut wie nie über sie? Warum nahm er sie nicht in seine Biographien auf, die er in Tepoztlân schrieb? Und ganz besonders dies: Warum erwähnte er nie die Schlimmsten von allen, jene, die wirklich Denunzianten waren, die wirklich Namen genannt hatten: Edward Dmytryk, Elia Kazan, Lee J. Cobb, Clifford Odets, Larry Parks?
Harry zertrat einen Skorpion mit dem Schuh. »›Die übelsten Insekten suchen sich den widerwärtigsten Ort und leben, wo es scheinbar kein Leben gibt.‹ Das hat Thomas Paine gesagt, um das Vorurteil zu beschreiben.«
Laura gab sich Mühe, zu erraten, was Harry dachte, all jene Dinge, die er nicht sagte, die jedoch in seinem fieberhaften Blick aufleuchteten. Sie wußte nicht, daß Harry das gleiche tat, er versuchte, in Lauras Gedanken zu lesen, betrachtete sie vom Bett aus, wenn sie sich wie jeden Morgen vor dem Spiegel zurechtmachte, und er verglich die noch junge Frau, die er vor zwei Jahren kennengelernt hatte, als sie aus einem von Bougainvilleen überwachsenen Becken auftauchte, mit der sechsundfünfzig-jährigen Dame, deren Haar immer mehr ergraute. Die lange graumelierte Haarflut war zu einem einfachen Knoten im Nacken zusammengebunden, so daß die klare Stirn noch breiter wirkte
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