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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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in Verbindung bringt.«
    »Unsere Kinder gehören zu uns, wo auch immer.«
    »In Ordnung, Herr Direktor. Das halte ich für eine akzeptable Lösung. Meine Familie und ich sind Ihnen sehr dankbar.«
    Allen fiel es schwer, sich von dem Haus am Meer über den Arkaden loszureißen: Leticia, weil sie sich noch weiter von Catemaco, ihrem Vater und ihren Schwestern entfernte, Laura, weil ihr die angenehme Wärme der Tropen gefiel, in denen sie geboren und aufgewachsen war, Fernando, weil sie ihn feige bestraften, und alle drei gemeinsam, weil sie sich von Santiago trennen mußten, von der Erinnerung an ihn, von seinem Meeresgrab.
    Laura verbrachte lange Zeit im Zimmer ihres Bruders, prägte es sich tief ins Gedächtnis ein und dachte an die Nacht zurück, in der sie ihn stöhnen gehört und entdeckte hatte, daß er verletzt war. Hätte sie den Eltern erzählen sollen, was geschehen war? Hätte sie Santiago damit gerettet? Warum hatte die Bitte des jungen Mannes, niemandem etwas zu erzählen, sie davon abgehalten? Als sie sich nun von dem Zimmer verabschiedete, versuchte sie sich vorzustellen, was Santiago dort geschrieben hätte; weiße Blätter hatte er zurückgelassen, ein umfängliches Buch mit unberührten Seiten, die auf die unersetzliche Hand, Feder, Tinte, Kalligraphie eines einzigen Menschen warteten.
    »Schreibend bist du allein, Laura, ganz allein, und doch benutzt du etwas, das allen gehört: die Sprache. Die Welt leiht dir die Sprache, und du gibst sie der Welt zurück. Die Sprache ist wie die Welt: Sie wird uns überleben. Verstehst du?«
    Don Fernando war lautlos an das Mädchen herangetreten. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte, auch er vermisse Santiago und überlege, wie das Leben seines Sohns hätte aussehen können. »Mein Sohn ist eine Verheißung, er ist klüger als alle anderen«, hatte er immer gesagt. Nun blieb das Zimmer, in dem der Junge sein freies Jahr hatte verbringen wollen, einsam zurück, der Raum, in dem er seine Gedichte schreiben wollte.
    Fernando umarmte Laura, doch sie mochte ihrem Vater nicht in die Augen sehen. Tote beweinte man einmal, danach bemühte man sich, zu tun, was sie nicht mehr hatten tun können. Wir könnten nicht lieben, schreiben, kämpfen, denken, arbeiten, wenn uns Tränen Augen und Kopf vernebelten; zu lange Trauer war ein Verrat am Leben des Toten.
    Wie anders war Xalapa. Veracruz, die Küstenstadt, bewahrte in der Nacht die Wärme des Tages, in Xalapa im Gebirge waren die Tage warm und die Nächte kalt. Die schnell und dröhnend vorübereilenden Gewitter von Veracruz wurden hier zu einem feinen, hartnäckigen Regen, der alles mit Grün überzog und den mitten in der Stadt gelegenen Stausee El Dique stets randvoll füllte, was einem ein Gefühl von Traurigkeit und zugleich Sicherheit gab. Vom Stausee stieg der leichte Nebel der Stadt auf und schwebte dem dichten Nebel des Gebirges entgegen. Laura erinnert sich, wie sie zum ersten Mal nach Xalapa gekommen war und was sie dort vorgefunden hatte: kalte Luft, Regen und wieder Regen, Vögel, schwarzgekleidete Frauen, schöne Gärten, Eisenbänke, weiße, von der Feuchtigkeit grün überzogene Statuen, rote Dächer, schmale und steile Straßen, Gerüche nach Markt und Bäckerei, feuchten Patios und Obstbäumen, Orangenbaumduft und Schlachthausgestank.
    Sie betrat ihr neues Heim. Alles roch nach Firnis. Das Haus hatte nur ein Stockwerk, und dafür sollte die Familie sehr bald dankbar sein. Laura sagte sich unverzüglich, in dieser Stadt mit den immer wiederkehrenden Nebeln würde sie sich mit dem Geruchssinn orientieren, er sollte das Maß ihrer Ruhe oder Unruhe sein: die Feuchtigkeit der Parks, die überreiche Blumenpracht, die zahlreichen Werkstätten, der Geruch nach gegerbtem Leder und dickflüssigem Teer, nach Sattlerei und Farbenhandlung, nach Baumwollballen und Hanfseilen, nach Schuster und Apotheke, nach Friseur und Perkai. Der Duft aufgebrühten Kaffees und schäumender Schokolade. Sie stellte sich blind. Sie berührte die Wände und fühlte deren Wärme. Sie öffnete die Augen, und die vom Regen gewaschenen Dächer glänzten und neigten sich gefährlich, als sehnten sie sich danach, daß die Sonne sie trocknete und der Regen durch die Rinnen, auf den Straßen, in den Gärten, vom Himmel zum Stausee ablief, alles in Bewegung in dieser düsteren Stadt, in einer unablässig sprießenden Natur,
    Das Haus entsprach dem in ganz Lateinamerika geltenden hispanischen Vorbild. Zur Straßenseite die blinden,

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