Die Jahre mit Laura Diaz
wohnt?«
»Ihr gehört das Haus.«
»Unser Haus?«
»Wir haben kein eigenes Haus, Töchterchen. Wir leben, wo es uns die Bank gestattet. Die Bank wollte das Haus hier kaufen, aber Dona Armonia wollte es nicht hergeben, weil sie nicht an Privateigentum glaubt. Wie immer man das verstehen will – oder kann. Darauf hat die Bank ihr angeboten, sie dürfe in ihrer Dachkammer bleiben, wenn wir das übrige Haus nutzen könnten.«
»Aber wie lebt sie, was ißt sie?«
»Die Bank versorgt sie mit allem Notwendigen. Man sagt ihr, ihre Genossen aus Barcelona würden regelmäßig das Geld dafür schicken.«
»Ist sie verrückt?«
»Nein, sie ist nur dickköpfig und glaubt, daß ihre Träume Wirklichkeit sind.«
Laura konnte Dona Armonia nicht ausstehen, weil sie unbewußt die Konkurrentin Santiagos war: Sie verwehrte dem jungen Toten den Raum, der nur für ihn allein dasein sollte.
Armonia Aznar, die nie einer zu Gesicht bekam, schwand aus den Gedanken Lauras, je länger das Mädchen in die Schule der Señoritas Ramos ging. Die beiden Schwestern Ramos waren gebildete, aber verarmte junge Damen, die die beste und außerdem erste gemischte Privatschule eröffneten. Obwohl sie keine Zwillingsschwestern waren, trugen sie die gleiche Kleidung und Frisur, sprachen und bewegten sich auf die gleiche Weise, so daß alle sie für Zwillinge hielten.
»Warum nur? Wenn man genau hinsieht, sind sie doch ganz verschieden?« sagte Laura zu ihrer Banknachbarin Elizabeth Garcia.
»Weil sie wollen, daß wir sie so sehen«, antwortete das blonde, strahlende, immer weißgekleidete Mädchen, das nach Lauras Meinung möglicherweise sehr dumm oder auch sehr gescheit war, ohne daß man genau wußte, ob es sich aus Verschlagenheit dumm stellte oder intelligent tat, um seine Dummheit zu verbergen. »Verstehst du? Zu zweit wissen sie mehr als jede für sich allein, und siehst du eine Person, weiß auch die, die sich in Musik auskennt, in Mathematik Bescheid, und die, die Gedichte vorträgt, erklärt dir außerdem, wie dein Herz pocht, meine liebe Laura, denn wie du ja weißt, reden die Dichter ständig vom Herzen hier und vom Herzen da, und dann stellt sich heraus, daß es nichts als ein ziemlich unzuverlässiger Muskel ist.«
Laura nahm sich vor, die beiden Señoritas genau auseinanderzuhalten, weil die eine tatsächlich so und die andere so war, doch wenn es darum ging, die Unterschiede genau zu bestimmen, fühlte sich Laura verwirrt: Was, wenn sie wirklich ein und dieselbe sind? Was, wenn sie wirklich alles wissen, wie die Encyclopedia Britannica, die Papa in seiner Bibliothek hat?
»Was, wenn sie sich als zwei Señoritas vorstellen und nur eine einzige sind?« meinte die kleine Elizabeth anderntags mit einem verzerrten Lächeln. Laura sagte, das sei dann ein Mysterium wie die Allerheiligste Dreifaltigkeit. Man glaube einfach daran, ohne weiter nachzuforschen. Ganz egal, die Señoritas Ramos seien eine einzige, die zwei sei, die eine sei – und Punktum.
Es fiel Laura schwer, sich damit abzufinden, und sie fragte sich, ob Santiago die Geschichte von den verdoppelten und vereinigten Lehrerinnen hingenommen hätte oder ob er eines Nachts kühn im Haus der Señoritas aufgetaucht wäre, um sie im Nachthemd zu überraschen und sich zu vergewissern: Es sind wirklich zwei.
In der Schule hüteten sich die beiden sorgfältig, zusammen aufzutreten. Das war der – wohldurchdachte oder zufällige, wer weiß? – Grund des Mysteriums.
Santiago wäre sicher auch die knarrende Treppe hinaufgestiegen, die zur Dachkammer über dem Kutschenschuppen führte, oder der Garage, wie man nun schon sagte, obwohl man in Xalapa in diesen Jahren noch keine Kutsche ohne Pferde, ein »Auto-Mobil«, gesehen hatte; die Wege aus der Kolonialzeit hätten den Verkehr von Motorfahrzeugen auch gar nicht zugelassen. Zug und Pferd reichten aus, wie die Schriftstellerin Dona Virginia meinte, um sich über Land zu bewegen, und auf dem Meer nehme man ein Kriegsschiff, wie es im Lied der Rebellen heiße. »Und die Postkutsche, in der man Großmutter die Finger abgeschnitten hat.«
Die Pferde und Züge der Revolution waren durch Xalapa gekommen, ohne es wirklich geplant zu haben. Das Ziel der Revolutionäre waren der Hafen und das Zollamt von Veracruz, dort kontrollierte man die Zolleinnahmen, verpflegte die Truppen und kleidete sie ein, ganz abgesehen vom symbolischen Wert, Herren der zweiten Hauptstadt des Landes zu sein, wo sich die Kräfte der Rebellen und der
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