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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Konstitutionalisten festsetzten, um die Regierung in Mexico-Stadt herauszufordern: »Ich bin hier, du nicht.« Im April 1914 wurde Veracruz von der nordamerikanischen Marineinfanterie besetzt, um Druck auf den schändlichen Diktator Victoriano Huerta auszuüben, den Mörder des Demokraten Madero, für den der junge Santiago sein Leben gegeben hatte.
    »Wie dumm die Yankees sind«, sagte der anglophile Don Fernando. »Statt Huerta zu schaden, machen sie ihn so zum Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit gegen die Gringos. Wer wagt es, einen lateinamerikanischen Diktator zu bekämpfen, so finster er auch sein mag, wenn der gleichzeitig von den Vereinigten Staaten bedroht wird? Huerta hat die Besetzung von Veracruz ausgenutzt, um noch mehr Truppen auszuheben, und behauptet, die Rekruten sollen gegen die Yankees ziehen, während er sie in Wirklichkeit nach Norden gegen Villa und nach Süden gegen Zapata schickt.«
    Die jungen Schüler der Vorbereitungsschule von Xalapa gebärdeten sich militärisch, trugen französische Käppis und marineblaue Uniformen mit goldenen Knöpfen und marschierten mit ihren Gewehren Richtung Veracruz, wo sie gegen die Gringos kämpfen wollten. Sie trafen nicht rechtzeitig ein: Huerta wurde gestürzt, und die Gringos zogen ab. Villa und Zapata schlugen sich mit Carranza, dem ersten Revolutionsführer, und nahmen Mexico-Stadt ein. Carranza floh nach Veracruz, bis Obregõn im April 1915 Villa in Celaya besiegte und Mexico-Stadt wieder besetzte.
    Das alles erfuhr man in Xalapa, manchmal als Gerücht, dann wieder als Nachricht, als gesungene Corridos und Balladen, als Liefersperre für Zeitungspapier und, bei einer Gelegenheit, als Kavalkade mit den Schreien und donnernden Gewehren eines Rebellentrupps. Leticia schloß die Fenster, warf Laura auf den Boden und deckte sie mit einer Matratze zu. Schon im Jahr fünfzehn dann schien es, als kehrte der Frieden nach Mexiko zurück, doch das gewohnte Leben der kleinen Provinzhauptstadt hatte ohnehin keine übermäßigen Störungen erlitten.
    Man hörte Gerüchte über die große Hungersnot, die im selben Jahr in Mexico-Stadt wütete, doch der Rest des Landes,
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    beunruhigt und in Sorge um sich selbst, kümmerte sich nicht um die luxuriöse und egoistische Hauptstadt, behielt Fleisch und Fisch, Mais und Bohnen, tropische Früchte und Getreide aus den gemäßigten Regionen für sich, so daß sich die Hauptstadt mit der wenigen Milch aus der Gegend von Milpa Alta und dem Gemüse begnügen mußte, das von Xochimilco bis Ixtapalapa vereinzelt wuchs. Wie immer gab es im Tal von Mexiko viele Blumen, aber wer aß schon Nelken und Callas?
    Ein Gerücht machte die Runde: Die Kaufleute horteten die knappen Produkte. Der fürchterliche General Alvaro Obregõn zog in Mexico-Stadt ein, und als erstes zwang er die Ladenbesitzer, die Straßen der Stadt zu fegen, um ihnen eine Lehre zu erteilen. Er räumte die Läden aus und stellte die Verbindungen wieder her, damit Nahrungsmittel in die ausgehungerte Hauptstadt gelangen konnten.
    So gingen die Gerüchte. Für alle Fälle schlief Dona Leticia mit einem Dolch unter dem Kopfkissen.
    Von der Revolution blieben Photographien in den Zeitungen und Zeitschriften, die Don Fernando in großen Mengen verschlang: Porfirio Dîaz als Greis mit eckigem Gesicht und indianischen Backenknochen, weißem Schnurrbart und medaillenbedeckter Brust, der sich von seinem »Ländchen« verabschiedete, wie der Diktator auf dem deutschen Dampfer Ipiranga sagte, als dieser aus Veracruz auslief; Madero, ein kleines, glatzköpfiges Männchen mit schwarzem Kinn- und Schnurrbart und träumerischen Augen, die über seinen Sieg über den Tyrannen staunten und sein eigenes Opfer ankündigten, er wurde von General Huerta ermordet, einem Henker mit dem Gesicht eines Lebemanns, mit schwarzer Brille und lippenlosem Mund, wie eine Schlange; Carranza, ein Alter mit weißem Bart und blauer Brille, der zum Landesvater bestimmt schien; Obregõn, ein junger, glänzender General mit blauen Augen und stolzem Schnurrbart, dem in der Schlacht von Celaya ein Arm abgerissen wurde; Zapata, ein verschwiegener und geheimnisvoller Name, als wäre er ein Gespenst, dem man die Gnade erwiesen hatte, für kurze Zeit feste Gestalt anzunehmen: Fasziniert betrachtete Laura die riesigen, feurigen Augen dieses Herrn, den die Zeitungen den »Attila des Südens« nannten, wie sie Pancho Villa als »Kentauren des Nordens« bezeichneten. Laura kannte von ihm nur Fotos, auf denen er

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