Die Jahre mit Laura Diaz
Schluß mit den gesellschaftlichen Klassen. Meinst du, das hätte nichts zu sagen? Vor zwanzig Jahren, als ich ein kleines Mädchen war…«
»Carmen, ich habe dich gesehen, wie du 1910 auf dem Ball zur Hundertjahrfeier geflirtet hast – ohne Erfolg.«
»Das war meine Tante. Anyway, schau dich um. Was siehst du?«
»Ich sehe eine Trauerweide. Ich sehe eine Nymphe. Ich sehe eine Aureole. Ich sehe die Melancholie, die Krankheit, den Egoismus. Ich sehe die Eitelkeit. Ich sehe die persönliche und kollektive Desorganisation. Schöne Posen. Häßlichkeiten.«
»Schwachkopf. Du bist ein verhinderter Dichter. Nenn mir Namen. Names, names, names.«
»Wbat's in a name?«
»Was, was für eine Sache?«
»Romeo und Julia, solche Sachen.«
»Wie bitte? Wer hat die eingeladen?«
Laura hatte sich gegen die Bitten ihrer Freundin Elizabeth gesträubt. »Du benimmst dich wie eine Witwe, ohne daß du eine bist, Laura, zum Glück hast du dich von Lopez Greene befreit wie ich mich von Caraza«, sagte Elizabeth, als sie über die Ave-nida Madero liefen und nach »Sonderangeboten« suchten. Elizabeth organisierte diese Expeditionen in die Läden der Galle de Gante, de Bolivar und del 16 de Septiembre, um Jagd auf preisreduzierte Kleidungs- und Schmuckstücke zu machen, die nach der Revolution allmählich nach Mexiko zurückfanden. Die Expeditionstage begannen mit einem Frühstück bei Sanborn's, führten später zu einem Mittagessen bei Prendes und erreichten ihren Höhepunkt mit einem Film im Cine Iris an der Galle de Donceles, Lauras Lieblingskino, weil man dort amerikanische
»Streifen« der Metro mit den besten Schauspielern zeigte: Clark Gable, Greta Garbo, William Powell. Elizabeth dagegen bevorzugte das Cine Palacio an der Avenida del Cinco de Mayo, wo nur mexikanische Filme aufgeführt wurden, und es begeisterte sie, mit Chato Ortin zu lachen, mit Sara Garda zu weinen oder Fernando Solers komödiantische Kunst zu bewundern.
»Erinnerst du dich, wie wir uns den Fettwanst Soto in den Folies angesehen haben? Dort hat sich dein Leben geändert.«
»Eine kaputte Ehe zerstört auch alles andere, Elizabeth.«
»Weißt du, was dir passiert ist? Intelligenter zu sein als dein Mann. Genau wie ich.«
»Nein, ich glaube, er hat mich geliebt.«
»Aber er hat dich nicht verstanden. Du bist an dem Tag weg, als du eingesehen hast, daß du intelligenter warst als er. Sag mir nicht das Gegenteil.«
»Nein, ich habe einfach gespürt, daß Juan Francisco nicht Schritt hielt mit meinen Idealen. Vielleicht bin ich moralischer als er, obwohl es mich heute langweilt, darüber nachzudenken.«
»Erinnerst du dich an den Spaß mit dem dicken Soto? Damit man dich in Mexiko für intelligent hält, mußt du ein Gauner sein. Ich empfehle dir, meine Liebe, eine emanzipierte und sinnliche Frau zu werden, eine Gaunerin, wenn du es so willst. Na los, iß deinen Eisbecher auf, saug die Strohhalme schön leer, und dann kaufen wir ein und gehn ins Kino.«
Laura sagte, sie schäme sich, daß Elizabeth sie mit so vielen Sachen »beballere«, wie man es in der hauptstädtischen Umgangssprache nannte; die Sprache wimmelte von Neologismen, die als Archaismen, und von Archaismen, die als Neologismen verkappt waren. Dabei herrschte so etwas wie eine sprachliche Sublimierung des zurückliegenden bewaffneten Kampfes, die dazu führte, daß »beballern« gleichbedeutend mit »beschenken« war, »Carranza nachmachen« mit »stehlen« und »belagern« mit »den Hof machen«, »sich anstrengen« hieß »eine Schlacht liefern«, und »mach mir den Wilson« besagte, daß einem der amerikanische Präsident, der die Landung der Marines in Veracruz und General Pershings Strafexpedition gegen Pancho Villa angeordnet hatte, den Buckel herunterrutschen konnte. Das Verhängnis wirkte wie in La Valentina: »Müssen sie mich morgen töten, dann sollen sie es ruhig tun«, die Kraft der Liebesleidenschaft wie in La Adelita: »Wenn sie mit einem ändern ginge, folgt' ich ihr zu Land und auf dem Meer.« Der Gegensatz zwischen Stadt und Land war so, als sänge man: »Nur vier Maisfelder sind übriggeblieben«, oder: »Schluß mit dem Tod, Schluß mit der Angabe.« Als wollte man an den entsetzlichen, spitzbübischen mexikanischen Landmann, den Cuatezon Beristăin erinnern, der sich General nannte, ohne daß er andere Schlachten als die gegen seine Schwiegermutter geliefert hatte. »Abschießen« bedeutete »einen anderen nachmachen«, und »Madero folgen« war das, was sie
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