Die Jahre mit Laura Diaz
gerade jetzt taten: auf der Avenida Madero bummeln, der wichtigsten Geschäftsstraße im Zentrum, der früheren Galle de Plateros, die man umgetauft hatte, um den Apostel der Revolution und der Demokratie zu ehren.
»Ich habe ein ungeheuer witziges Buch von Julio Torri gelesen. Es heißt ›Über Erschießungen‹, und darin beklagt er sich, wenn man erschossen werde, sei es am unangenehmsten, daß man so früh aufstehen müsse«, sagte Laura, während sie sich die Schaufenster ansahen.
»Mach dir keine Sorgen. Mein Mann, der arme Caraza, hat immer gesagt, während der Revolution sei eine Million Menschen umgekommen – und zwar bei Kneipenschlägereien. Laura«, Elizabeth blieb vor dem Abgeordnetenhaus in der Galle de Donceles stehen, »du gehst so gern ins Cine Iris, weil dein Mann Abgeordneter ist, stimmt's?«
Sie kauften Karten für »A Free Soul« mit Clark Gable und Norma Shearer, und Elizabeth erklärte, der Geruch nach Nougat und Apfelwein am Eingang der Kinos begeistere sie.
»Frische Äpfel und klebriger Honig«, seufzte die immer blondere und rundlichere junge Dame, als sie aus der Vorführung kamen. »Siehst du? Norma Shearer gibt alles auf, ihre Stellung, den aristokratischen Bräutigam – wie distinguiert dieser Engländer Leslie Howard doch aussieht! –, und das alles für einen Gangster, der noch attraktiver ist als Clark Gable. Dieses göttliche Langohr! Der fasziniert mich!«
»Also mir ist der Blonde lieber, Leslie Howard. Der ist außerdem Ungar und kein Engländer.«
»Unmöglich, die Ungarn sind Zigeuner und haben Ringe in den Ohren. Wo hast du das gelesen?«
»In Photoplay.«
»Vielleicht ist dir der Blonde lieber, ob nun Engländer oder Kinderdieb, egal was, aber du hast den dunkelhäutigen Juan Francisco geheiratet. Mädchen, mich führst du nicht hinters Licht. Dir gefällt das Cine Iris, weil es neben dem Abgeordnetenhaus liegt. Wenn du Glück hast, siehst du ihn. Ich meine, ihr seht euch. Ich meine. Ich meine ja nur.«
Laura schüttelte impulsiv den Kopf, doch sie erklärte Elizabeth nichts. Manchmal spürte sie, daß ihr Leben einer Sonnenwende glich, nur daß ihre Ehe vom Frühling direkt in den Winter übergegangen war, ohne die dazwischenliegenden Jahreszeiten der Reife und Ernte. Sie liebte Juan Francisco, doch ein Mann ist nur bewundernswert, wenn er auch die Frau bewundert, die ihn liebt. Das hatte Laura gefehlt. Elizabeth mochte recht haben, sie mußte aus anderen Quellen trinken, in anderen Flüssen baden: Wenn sie die vollkommene Liebe nicht fand, konnte sie sich zumindest in eine romantische Leidenschaft hineinsteigern, mochte sie auch nur »platonisch« sein – ein Wort, das Elizabeth nicht verstand, während sie die Sache aber auf den Festen praktizierte, an denen sie regelmäßig teilnahm.
»Sieh mich an, aber faß mich nicht an. Wenn du mich anfaßt, steckst du dich an.«
Sie gab sich niemandem hin, und ihre Freundin Laura glaubte, daß man eine Leidenschaft vorsätzlich hervorrufen könne. So lebten sie ohne Probleme und ohne Männer, sie entzogen sich den zahlreichen Frauenhelden, die der Aufruhr der Revolution von ihren Familien befreit hatte und die eine Geliebte suchten, während sie eigentlich eine Mutter wollten.
Die Vernissage, bei der das von Tizoc Ambriz gemalte Bild Andrea Negretes enthüllt werden sollte, diente Laura schließlich als Anlaß, ihre Witwenschaft »ohne Leiche« aufzugeben, wie Elizabeth es mit einem gewissen makabren Unterton nannte, im Rahmen einer »künstlerischen« Feier. Es mußte endlich Schluß damit sein, die Vergangenheit wiederzukäuen, sich unmögliche Liebschaften einzubilden, Geschichten aus Veracruz zu erzählen, sich nach den Kindern zu sehnen, aus Scham vor einer Fahrt nach Xalapa zurückzuschrecken, weil sie sich schuldig fühlte, weil sie das gemeinsame Heim verlassen hatte, wie sie auch ihre Kinder verlassen hatte; sie wußte nicht, wie sie das alles rechtfertigen sollte, wollte Juan Francisco nicht vor den Kindern herabsetzen, wollte der Mutti und den Tanten gegenüber nicht zugeben, daß sie sich geirrt hatte, daß es für sie besser gewesen wäre, wenn sie sich auf den Bällen in San Cayetano und im Casino von Xalapa einen Jungen ihrer Klasse gesucht hätte. Doch vor allem wollte sie nicht schlecht von Juan Francisco reden, alle sollten weiter glauben, daß sie einem kämpferischen und vor allem tapferen Mann vertraut hatte, einem Führer, der all das verkörperte, was in Mexiko in diesem Jahrhundert geschehen
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