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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Nacht ist, weil sie nur auftauchen, wenn es kein Licht gibt, weil sie sich vor der Sonne fürchten, weil sie sich tagsüber verkriechen, aus Angst, gesehen zu werden. Was sind sie, Laura? Sieh sie dir genau an: Sind es Zwerge, Kinder, sind es Kinder, die nicht weiterwachsen, tote Kinder, die im Stehen erstarrt sind, halb im Staub vergraben? Sag mir, Laura, hat dir dein Mann das gezeigt, oder hat er dir nur die gefällige Seite der Armut vorgeführt, die Arbeiter in blauen Hemden, die Huren mit dem sorgfältig gepuderten Gesicht, die Drehorgelspieler und die Schlosser, die Tamal-Verkäuferinnen und die Sattler? Ist das seine Arbeiterklasse? Du willst gegen deinen Mann rebellieren, du haßt ihn, hat er dir keine Chance gegeben, etwas für die Menschen zu tun, hat er dich unterschätzt? Ich gebe dir eine Chance, ich nehme dich bei den Schultern, Laura, ich zwinge dich, die Augen aufzumachen und dich zu fragen: Was, was kannst du gegen das alles tun, Laura? Warum verbringen du und ich nicht unsere Nächte hier, mit dem ›Frosch‹ und der ›Schlange‹ und den Kindern, die nicht wachsen und sich vor der Sonne fürchten, anstatt daß wir unsere Nächte mit Carmen Cortina, Querubina de Landa, dem Dickarsch Valle und der Schauspielerin verbringen, die sich den Schamhügel weiß anmalt? Warum?«
    Laura umarmte Orlando ganz fest und brach in Tränen aus, die sie, wie sie sagte, seit ihrer Geburt zurückgehalten habe, seit sie ihren ersten Menschen an den Tod verloren und sich gefragt habe, warum sterben die Menschen, die ich liebe, wozu wurden sie dann überhaupt geboren?
    »Was kann man tun? Es sind Tausende, Millionen. Vielleicht hat Juan Francisco recht. Wo soll man anfangen? Was kann man für all diese Leute tun?«
    »Sag du es mir.«
    »Such den Ärmsten von allen aus. Einen einzigen, Laura. Wähle einen aus, und du rettest alle.«
    Laura Dïaz sah durchs Fenster des Pullmanwagens die ausgeglühte Hochebene vorüberziehen, als sie heimfuhr, zurück nach Veracruz, weit weg von der Sandpyramide, durch die sich die Froschfrauen, die Schlangenmänner und die rachitischen Kinder drängten, wie Raupen, Schaben oder Krebse, auf unsichtbaren Pfaden, die nachts aus Geschwüren gleichenden Gruben auftauchten.
    Bis zu jener Nacht hatte sie nicht wirklich an das Elend geglaubt. »Wir leben abgeschirmt und sind so angepaßt, daß wir nur das sehen, was wir sehen wollen.« Das hatte Laura zu Orlando gesagt. Jetzt, auf dem Weg nach Xalapa, spürte sie selbst das angstvolle Bedürfnis, bemitleidet zu werden: Sie sehnte sich nach Mitgefühl und wußte, daß das, was sie für sich verlangte, ihren Teil Mitleid, von ihr im Haus in der Galle Bocanegra erwartet wurde, ein bißchen Mitleid, ein bißchen Rücksicht auf das Vergessene – die Mutter, die Tanten, die beiden Söhne: um ihnen nicht die Wahrheit zu sagen, um die ursprüngliche Fiktion für sie aufrechtzuerhalten, war es besser, daß Danton und Santiago wohlbehütet in der Provinz aufwuchsen, während Laura und Juan Francisco in der schwierigen Stadt Mexico ihr Leben regelten und ihren Weg im Leben fanden, in einem äußerst schwierigen Land, das aus Saatfeldern und Trümmerstätten, aus dem Blut der Revolution emporwuchs. Nur Tantchen Maria de la O kannte die Wahrheit, doch vor allem wußte sie, daß Diskretion die Wahrheit ist, die nicht weh tut.
    Die vier Frauen saßen in den alten Korbsesseln mit Lehne, die die Familie immer mit sich geschleppt hatte, seit dem Hafen von Veracruz. Der Schwarze Zampayita machte ihr die Haustür auf, und dabei erlebte Laura ihre erste Überraschung: Der muntere Tänzer packte nicht mehr den Besen, wie man »seine Kleine um die Taille faßt, das erlaubt sie bestimmt«. Der alte Diener der Familie stützte sich auf einen Stock und unterstrich damit seinen verhinderten Ausruf: »Laura Mädchen!«, der durch ein Zeichen Lauras erstickt wurde, die einen Finger an die Lippen legte, während der Schwarze den Koffer des Mädchens nahm und sie ihn gewähren ließ, damit er seine Selbstachtung bewahrte, obwohl er das Gepäck kaum tragen konnte.
    Laura wollte sie zuerst von der Salontür aus sehen, hinter den verschlissenen Vorhängen, ohne von ihnen gesehen zu werden.
    Die vier Schwestern saßen schweigend da, Tante Hilda bewegte nervös die arthritischen Finger, als spielte sie auf einem klanglosen Klavier, Tante Virginia murmelte unhörbar ein Gedicht und hatte nicht die Kraft, es auf dem Papier festzuhalten, Maria de la O betrachtete geistesabwesend

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