Die Jahre mit Laura Diaz
Vergewaltigung, sich in Luft auflösende Ersparnisse, wertloses Papiergeld, die Arroganz und das Getümmel der Rebellengruppen. Die alte Gesellschaft war verschwunden, die neue hatte noch keine deutlichen Konturen gewonnen. Die Städter standen mit einem Fuß in einem Saatfeld und mit dem anderen in einer Trümmerstätte, wie es Musset in Frankreich nach dem Sturz Napoleons genannt hatte. Das Schlimme war, daß das Blut manchmal Saatfeld und Ruinen bedeckte und die Grenzen zwischen Brache und Saatkörnern verwischte, die sterben müssen, um Frucht zu bringen.
Feste wie die der berühmten, halbblinden Carmen Cortina waren eine Erholung für die mondäne Elite, deren führende Vertreter zu den Saatkörnern und Überresten gehörten, jene, die die revolutionäre Katastrophe überlebt hatten, die ihr Leben der Revolution verdankten, und jene, die während der Revolution gestorben waren, es aber noch nicht gemerkt hatten. Carmens Feste waren eine Ausnahme, eine Seltenheit. Die anständigen Familien statteten einander frühzeitig Besuche ab, heirateten noch frühzeitiger untereinander, prüften die neue revolutionäre Gesellschaft mit Lupe und Sieb… Wenn ein barbarischer General aus Sonora eine hübsche Señorita aus Sinaloa heiratete, waren die Verwandten und Gefolgsleute aus Culiacăn dabei, um sich zustimmend oder ablehnend zu äußern. Die Familie des Generals Obregõn hatte keine gesellschaftlichen Ambitionen, und der Einarmige von Celaya hätte besser daran getan, auf seinem Gut in Huatabampo zu bleiben und Truthähne zu hüten, als hartnäckig auf seiner Wiederwahl zu bestehen und in den Tod zu rennen. Die Galles dagegen wollten Beziehungen knüpfen, etwas darstellen, ihre Töchter im Country Club von Churubusco einführen und sie dann alle in der Kirche verheiraten, selbstverständlich!, wenn auch in privaten Zeremonien. Der merkwürdigste und meistbeachtete Fall jedoch war der von General Joaquïn Amaro, dem leibhaftigen Inbegriff des revolutionären Führers, einem unvergleichlichen Reiter, der eher wie ein Kentaur, ein Yaqui-Indio wirkte, mit buntem Halstuch und Ohrring, tiefdunkler Haut, dicken, sinnlichen, herausfordernden Lippen und einem Blick, der sich in der Ursprungsnacht der Völkerschaften verlor: Amaro heiratete eine Señorita aus der besten Gesellschaft des Nordens, deren Hochzeitsgeschenk darin bestand, daß sie den General zwang, Französisch und feines Benehmen zu lernen.
Jungen, die ein Bummelleben führten, hatte es immer gegeben, allerdings war nicht mehr genug Geld da, um im Ausland zu studieren, und nun besuchten alle die Juristische Fakultät in San Ildefonso, die Medizinische Fakultät in Santo Domingo, die Armseligsten gingen in Berufsschulen, die größten Gecken in die Hochschule für Architektur: Alles spielte sich im alten Stadtzentrum ab, umgeben von Kneipen, Kabaretts und Bordellen. Tag und Nacht unsichtbar brodelte das Leben des Volkes, Mexico war noch eine Stadt von Leuten mit großen Hüten und Ledersandalen, Overalls und Umschlagtüchern: »Das hat mir mein Mann gezeigt, Juan Francisco, als er mich herumführte und mich überzeugte, so groß, wie die Probleme seien, lieber zu Hause zu bleiben und für meine Kinder zu sorgen.«
»Dein Mann hat dir überhaupt nichts gezeigt«, sagte Orlando Ximénez ungewöhnlich heftig, packte Laura am Handgelenk und zwang sie, in bebautem Ödland auszusteigen; genau das war das Paradoxe, der brutale Schock: Es gab Straßen und Häuser, und trotzdem war es eine Wüstenei mitten in der Stadt, eine aus Staub errichtete Ruine, von vornherein eine Ruine, eine Sandpyramide, an deren Seiten auf den ersten Blick nicht zu erkennende, unvollständige Gestalten erschienen, schwer zu bezeichnende Formen, eine halbfertige Welt. Sie drangen in diese graue, geheimnisvolle Stadtwelt vor, Laura wurde von Orlando an der Hand geführt, wie Béatrice von Vergil, nicht von Dante, eine andere Laura, nicht die Petrarcas, er nötigte sie hinzusehen: »Schau dir das an, siehst du sie, sie kommen aus den Gruben, tauchen aus dem Abfall auf, sag mir, Laura, was kannst du für die Frau da tun, die man ›den Frosch‹ nennt, sie springt mit an die Schenkel gedrücktem Oberkörper, sieh sie dir an, sie ist gezwungen, wie ein Frosch zu springen, um nach Essensresten zu suchen, was kannst du da tun, Laura, sieh dir das an, was kannst du für den Mann da tun, der ohne Nase, ohne Arme und Beine wie eine menschliche Schlange auf der Straße kriecht? Sieh sie dir jetzt an, weil
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