Die Jahre mit Laura Diaz
ihre geschwollenen Knöchel, und nur Leticia, die Mutti, tat wirklich etwas, sie strickte eine dicke Jacke, die sie auf den Knien ausgebreitet hielt und die sie beim Stricken vor der Dezemberkälte Xalapas schützte, wenn sich die Nebel vom Perote-Gipfel mit denen aus den Stauseen, Brunnen und Bächen vereinten, die sich in dem fruchtbaren subtropischen Gebiet zwischen Bergen und Küste zusammendrängten.
Als Leticia aufblickte, um ihre Arbeit zu begutachten, sah sie in Lauras Augen und rief: »Tochter, meine Tochter!« Mühsam stand sie auf, während Laura zu ihr lief und sie umarmte: »Bleib sitzen, Mutti, streng dich nicht an, bitte, bleibt alle sitzen!« Wenn sie aufgestanden wären, hätte sich dann Tante Hilda selbst erdrosselt, weil das Doppelkinn ihr die Luft abdrückte, und wären ihre halbblinden Augen hinter den Brillengläsern, dick wie die Wände eines Aquariums, noch enger zusammengedrückt worden? Wäre Tante Virginias Haut aufgeplatzt, weil ihr mit Reispuder übertünchtes Gesicht nicht mehr aus gepuderten Runzeln, sondern nur noch aus gerunzeltem Puder bestand? Wäre Tantchen Maria de la O auf die frisch gewischten, teppichlosen Fliesen des Bodens gestürzt, weil ihr die geschwollenen Knöchel keinen Halt mehr boten?
Aber Leticia richtete sich kerzengerade auf, sie stand ebenso senkrecht wie die Wände des Hauses, ihres Hauses, die Haltung ihrer Mutter sagte Laura alles, das Haus gehört mir, ich halte es sauber, ich räume es auf, es ist ein geschäftiges, bescheidenes, aber unseren Ansprüchen genügendes Haus. Hier fehlt es an nichts.
»Du fehlst uns, Tochter. Du fehlst deinen Kindern.«
Laura umarmte sie, küßte sie, sagte nichts. Sie wollte sie nicht daran erinnern, daß sie, Mutter und Tochter, zwölf Jahre in Catemaco gelebt hatten, getrennt von ihrem Vater Fernando und ihrem Bruder Santiago, und daß auch sie sich heute auf die Argumente von damals berufen konnte. Die gestrige Gegenwart war jedoch nicht die heutige Vergangenheit. Flüchtig dachte Laura an die Feste Carmen Cortinas, sie huschten vorbei wie die streunenden Hunde vom Bahnhof; vielleicht bewunderten sie insgeheim die Schnelligkeit der Lokomotiven, vielleicht waren Carmen Cortinas Gäste eine weitere Meute herrenloser Hunde.
»Die Kinder sind in der Schule. Sie kommen bald.«
»Wie geht es mit dem Lernen?«
»Sie sind selbstverständlich bei den Señoritas Ramos.«
Fast hätte sie gesagt, mein Gott, die sind noch nicht tot!, aber das wäre eine Ungehörigkeit gewesen, ein Fauxpas, wie Carmen Cortina gesagt hätte, deren Welt, so schien es, nun in der fernsten und nebelhaftesten Irrealität verschwand. Laura lächelte. Während ihres anderthalbjährigen Liebesverhältnisses mit Orlando Ximénez war das ihre Welt gewesen, Lauras und Orlandos gemeinsame tägliche oder vielmehr nächtliche Welt.
Laura und Orlando. Wie anders klangen die Namen dieses Paars hier im Haus in Xalapa, in Veracruz, in der wiedererweckten Erinnerung an Santiago den Ersten. Es überraschte sie, an ihren mit einundzwanzig Jahren erschossenen Bruder zu denken, sprang doch in diesem Augenblick der junge Santiago mit seinem Ranzen auf dem Rücken in den Raum, ein zehnjähriger kleiner Kavalier, ernst wie ein feierliches Bild und direkt in seiner vorausgeschickten Mitteilung: »Danton muß nachsitzen. Er muß zwanzig Seiten ohne einen einzigen Tintenklecks abschreiben.«
Die Señoritas Ramos würden sich nie ändern, aber Santiago hatte seine Mama vier Jahre lang nicht gesehen. Trotzdem wußte er sofort, wer sie war. Er lief nicht zu ihr, um sie zu umarmen. Er wartete, daß sie zu ihm kam und niederkniete, um ihn zu küssen. Der Junge verzog keine Miene. Laura bat mit ihrem Blick die Frauen des Hauses um Hilfe.
»So ist Santiago«, sagte Mutti Leticia. »Ich habe noch kein ernsteres Kind gesehen.«
»Darf ich gehen? Ich habe viele Hausaufgaben.« Er küßte Lauras Hand – wer hatte ihm wohl das beigebracht, die Señoritas Ramos, oder war ihm seine Höflichkeit, seine Distanz angeboren? Dann sprang er hinaus. Laura freute sich über diese kindliche Geste; ihr Sohn betrat und verließ das Zimmer mit einem Sprung, obwohl er wie ein Richter sprach.
Das Essen zog sich schmerzlich in die Länge. Danton ließ durch ein Dienstmädchen ausrichten, daß er bei einem Freund schlafen werde. Später wollte Laura nicht die tatkräftige, emanzipierte Hauptstädterin spielen, die unruhige, als Wachzustand ausgegebene Siesta ihrer Tanten nicht stören und auch nicht
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