Die Jahre mit Laura Diaz
deine Versprechen, Undankbare. Ich werde sterben, ohne daß jemand außer mir meine Gedichte vorgetragen hat.«
Mit einer bangen Bewegung kehrte sie ihrer Nichte den Rücken zu.
Laura erzählte Maria de la O von ihrem Gespräch mit Tante Virginia, und die sagte nur: »Mitleid, Tochter, ein bißchen Mitleid für die Alten, die nicht von anderen geliebt und geachtet werden.«
»Du kennst als einzige die Wahrheit, Tantchen. Sag mir, was ich tun soll.«
»Laß mich nachdenken. Ich will schließlich nicht ins Fettnäpfchen treten.«
Ihr Blick fiel auf ihre geschwollenen Knöchel, und sie wurde von einem Lachanfall gepackt.
In der Nacht fühlte sich Laura traurig und ängstlich, es fiel ihr schwer, Schlaf zu finden, und sie lief allein im Patio umher, wie Tante Virginia tagsüber. Sie war barfuß, damit sie kein Geräusch machte und nicht die Schluchzer und erinnerungsschweren Seufzer störte, die ungewollt aus den Schlafzimmern entschlüpften, in denen die vier Schwestern schliefen.
Welche würde als erste sterben? Welche als letzte? Laura schwor sich, daß sie sich um die letzte Schwester kümmern würde, wo sie selbst auch immer sein sollte, sie wollte die Überlebende bei sich aufnehmen oder ihr hier Gesellschaft leisten, Tante Virginia sollte nicht recht haben: »Ich habe entsetzliche Angst, als letzte übrigzubleiben und allein zu sterben.«
Ein nächtlicher Patio, auf dem sich die Alpträume von vier Greisinnen ein Stelldichein gaben. Laura fiel es nicht leicht, ihre Mutter Leticia in diesen Chor der Angst einzubeziehen. Sie machte sich Vorwürfe, als sie sich bei dem Gedanken ertappte, wenn eine der vier allein bliebe, würde es hoffentlich die Mutter oder das Tantchen sein. Hilda und Virginia waren schrullig und unerträglich geworden. Sie waren beide, das glaubte die Nichte fest, nie mit einem Mann zusammen gewesen. Dafür aber Maria de la O. »Meine Mutter hat mich gezwungen, mit ihren Kunden zu schlafen, seit ich elf war.«
Laura hatte keinen Schrecken und kein Mitgefühl verspürt, als das Tantchen ihr Jahre zuvor in der Avenida Sonora dieses Geständnis gemacht hatte, sie wußte, daß die großmütige und warmherzige Mulattin das sagte, damit Laura verstand, wieviel die uneheliche Tochter Felipe Kelsens der lauteren Menschlichkeit seiner Frau, der Großmutter Côsima Reiter, und auch der Hochherzigkeit von Lauras Vater Fernando Dïaz zu verdanken hatte. Côsima Reiters Menschlichkeit glich trotz aller Alters-, Klassen- und Rassenunterschiede der Maria de la Os sehr.
Die Nichte ging auf ihre Tante zu, um sie zu umarmen und zu küssen, doch Maria de la O hielt sie mit ausgestrecktem Arm zurück, sie wollte kein Mitleid, und Laura küßte nur die mahnend hochgereckte Hand.
Laura war wieder zu Hause, und sie wünschte sich von ganzem Herzen, daß die Mutti als letzte stürbe, denn sie ließ niemals ihre Klagen nach außen dringen und sich auch nicht unterkriegen, sie hielt die Pension sauber und bewohnbar, und Laura dachte, daß die drei anderen ohne sie hilflos wären, wie arme Seelen durch die Flure irrten, während sich das schmutzige Geschirr auf den Küchenherden stapelte, das Gras ungepflegt im Patio wucherte, sich die Vorratskammern leerten, der Hungertod drohte, Katzen sich im Haus einquartierten und die schlafenden Gesichter Virginias, Hildas und Maria de la Os von grünen Fliegen mit einer summenden Maske bedeckt würden.
»Ja, wir alle haben eine Zukunft ohne Liebe«, sagte Leticia unverhofft eines Nachmittags, als Laura ihr half, das Geschirr abzuwaschen, und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu, sie freue sich, ihre Tochter wieder im Haus zu haben.
»Mutti, wie sehr habe ich mich nach meiner Kindheit zurückgesehnt, nach der Wohnlichkeit der Räume, nach den Möbeln. Wie die einem im Kopf bleiben, auch wenn sie längst ziemlich ramponiert sind, ein Schlafzimmer, ein Kleiderschrank, ein Waschbecken, diese fürchterlichen zwei Bilder mit dem Lausbuben und dem Hund, von denen ich nicht weiß, warum du sie aufhebst…«
»Nichts erinnert mich so sehr an deinen Vater, dabei war er überhaupt nicht so.«
»Ein Lausbube oder ein lausiger Maler?« fragte Laura lächelnd.
»Darauf kommt es nicht an. Es sind Dinge, die ich mit ihm in Verbindung bringe. Immer wenn ich mich zum Essen hinsetze, sehe ich ihn am Kopfende, mit diesen Bildern hinter ihm.«
»Habt ihr euch sehr geliebt?«
»Wir lieben uns noch, Laura.«
Sie nahm die Hände ihrer Tochter und fragte sie, ob sie glaube, daß uns
Weitere Kostenlose Bücher