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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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kann ich ihn nicht bitten, das betreffende Buch aus dem Tresor zu holen, da er sich zurzeit geschäftlich in Port Said aufhält.«
    Byron und Horatio machten enttäuschte Gesichter.
    »Wir erwarten ihn übermorgen zurück«, fuhr der Empfangschef so gleich fort. »Wenn Sie so lange warten können, wird Ihnen Monsieur Lambert bei seiner Rückkehr sicherlich den Gefallen tun, Ihnen Ein blick in das Gästebuch zu geben. Wie ich Ihren Worten entnehmen durfte, führt Ihr Weg Sie zum ersten Mal nach Ägypten. Deshalb wird es Ihnen gewiss nicht schwerfallen, die Tage mit Besichtigungen der Stadt und der umliegenden Sehenswürdigkeiten auszufüllen.«
    Und genau das taten sie dann auch, wobei sie sich manchmal für ei nige Stunden trennten. Horatio verbrachte diese Stunden in Museen und Kunstgalerien, Alistair in der Gesellschaft von anderen Hotelgäs ten, die sich gern zu einem Pokerspiel zusammensetzten, und Byron voll Dankbarkeit mit Harriet. Am Vormittag ihres dritten Tages in Kairo kehrte Pascal Lambert aus Port Said zurück und auch er hatte keine Einwände, ihnen den betreffenden Band des Gästebuchs zur Einsicht auszuhändigen.
    »Aber wundern Sie sich nicht über das, was Lord Pembroke geschrieben hat«, sagte er, als er Byron das Buch überreichte. »Sie wissen vermutlich selbst, dass er ein Mann mit gewissen . . . nun ja, recht ungewöhnlichen Eigenschaften war, und das will bei der aus geprägten Individualität unserer Gäste etwas heißen. Jedenfalls ist mir Lord Pembrokes Eintrag ob seiner etwas exzentrischen Art noch sehr gut in Erinnerung geblieben.«
    »Das passt durchaus in das Bild, das wir uns bei unseren Recher chen inzwischen von ihm haben machen können«, versicherte Byron, bedankte sich und war wie seine Freunde gespannt, auf welche Art von Exzentrik sie in dem Gästebuch stoßen würden.
    Sie zogen sich mit dem Buch in Byrons Zimmerflucht zurück. Und weil Alistair der Lösung des Rätsels auf die Spur gekommen war, überließ Byron es ihm, nach Mortimers Eintragung zu suchen.
    Er hatte die Stelle schnell gefunden, blätterte weiter und machte ein verblüfftes Gesicht. »Das gibt es doch gar nicht!«, stieß er hervor.
    »Was ist?«, fragte Harriet und beugte sich vor, um einen Blick auf die Seite zu werfen.
    »Der Kerl hat anstelle eines vollmundigen Spruches, so wie es die meisten anderen illustren Gäste vor ihm getan haben, ganze Gedich te in das Buch geschrieben – und zwar über mehrere Seiten hinweg! Manche sind nur ein paar Zeilen kurz, andere ziehen sich über eine ganze Seite hin!«, empörte sich Alistair.
    »Dann trag uns doch mal die Gedichte vor!«, forderte Horatio ihn auf, während er seine Brillengläser putzte. »Mal sehen, was du als Re zitator erhabener Lyrik taugst!«
    »Also, es geht los mit etwas Kurzem, einem Viereinhalbzeiler: Alistair verzog das Gesicht. »Tja, kaum ist der muntere Verseschmied warm geworden, da bricht sein Gedicht auch schon ab. Ist ihm wohl nichts mehr eingefallen! Dann passt das ›Oh weh‹ natürlich.«

    »Diese Verszeilen stammen aus dem ersten Höllengesang von Dan tes Göttlicher Komödie und diesem begnadeten Dichter ist danach noch ein an Länge und Inhalt gewaltiges Epos eingefallen«, sagte By ron und übte sich in Geduld. Die Zeit drängte gottlob nicht, also soll te Alistair ruhig seinen Spaß haben.
    »Soso«, murmelte Alistair. »Dann mal weiter zum nächsten un sterblichen Epos. Diesmal versteht sich der Dichter wenigstens aufs Reimen, was schon mal ein Fortschritt ist.« Er lachte auf, als er die ersten Zeilen überflog. »Außerdem scheint er was von den zweit wichtigsten Dingen des Lebens zu verstehen – nämlich von der Sehnsucht und den Frauen! Hört euch mal an, was Mortimer hier hin terlassen hat!« Und er begann, mit übertriebenem Pathos zu dekla mieren:

    Alistair hob den Kopf und grinste in die Runde. »Tut mir leid, Freun de, aber gerade jetzt, wo er so richtig zur Sache kommt, verlässt ih n
    offenbar die Courage! Wirklich schade. Wäre interessant gewesen, was er uns noch an tiefen sinnlichen Einsichten zu bieten gehabt hät te!«, scherzte er.
    »Den Gefallen kann ich dir gerne tun«, sagte Byron. »Aber das wird dir den Spaß an dem Gedicht vermutlich verderben. Denn hier han delt es sich nicht um wollüstige Verse, wie du irrigerweise an nimmst, mein Freund, sondern um ein Sonett von John Keats mit dem Titel I cry Your Mercy, in dem es um das Existenzielle des Men schen geht, um den Sinn des Lebens. Die beiden letzten

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