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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Strophen gehen nämlich folgendermaßen:

    Alistair verzog das Gesicht und zuckte die Achseln. »Von einem John Keats war in den Waisenhäusern meiner Jugend nun mal nicht die Rede«, sagte er und blätterte um. »So, jetzt kommen wir zu Morti mers letzter lyrischer Darbietung. Diesmal scheint er alle Register gezogen und alle Strophen aufgeschrieben zu haben, denn das Ge dicht füllt eine ganze Seite. Nur leider ist es auf Deutsch, sodass ich das goldene Buch an dich weitergeben muss, liebe Harriet.«
    Harriet nahm das Gästebuch entgegen und begann vorzulesen:

    Harriet ließ das Gästebuch sinken. »Schön romantisch für diesen ir ren Mortimer. Aber irgendwie auch passend, wie er da so von Bald werd ich dich verlassen und Fremd in der Fremde gehn spricht. Das passt immerhin zu seiner Abreise aus Kairo und dass er danach nicht mehr lange gelebt hat.«
    Byron nickte. »Das Gedicht, das übrigens von Joseph von Eichen dorff stammt, trägt ja auch den Titel Abschied, ist also in der Tat sehr passend. Aber als Eintrag in das Gästebuch eines Hotels wirklich recht exzentrisch.«
    »Kümmern wir uns lieber um die Frage, was Mortimer mit diesen zwei angefangenen Gedichten und einem dritten vollständigen be zweckt hat«, sagte Horatio. »Wo soll denn in diesen Versen der fünfte Hinweis auf das Versteck der Judas-Papyri verborgen sein, zumal die Gedichte ja nicht aus Mortimers Feder stammen? Wären die Verse von ihm, sähe das schon anders aus. Aber in Lyrik von Dante, Keats und Eichendorff kann man doch kein Rätsel verste cken!«
    »Dazu fällt mir auch nichts ein«, gestand Harriet.
    »Du irrst, Horatio. Man kann jeden Text als verschlüsselte Bot schaft verwenden«, sagte Byron und zog das Gästebuch zu sich he ran. »Und oftmals ist der Code in vorgegebenen Texten sogar leich ter zu entdecken als in selbst entworfenen.«
    »Da bin ich jetzt aber mal gespannt, wie schnell du in diesen lyri schen Ergüssen von Höllengesang, zwiespältiger Sehnsucht und sen timentalem Abschiedsschmerz eine Botschaft an uns findest!«, sagte Alistair skeptisch.
    Byron begann, die Gedichte nun selbst aufmerksam zu lesen. Auf den ersten wie auf den zweiten Blick erschloss sich ihm das Geheim nis jedoch nicht. Also nahm er sie sich Zeile für Zeile ein drittes Mal vor.
    »Na also!«, rief er plötzlich erleichtert. »Irgendeine Version von lin guistischer Steganografie musste ja auch vorliegen!«
    »Wie wäre es mit Klartext, Herr Kryptologe?«, fragte Alistair.
    Byron machte sich einen Spaß daraus, diesmal nicht sofort zur Sa che zu kommen. Nachdem er gerade Alistairs spöttische Bemer kungen geduldig hingenommen hatte, würde dieser sich nun anhö ren müssen, was es mit der linguistischen Steganografie auf sich hatte.
    »Man versteht darunter zwei Klassen von Tarnverfahren. Bei der ei nen Form der Codierung lässt man eine geheime Nachricht als völlig unverfängliche und offen verständliche Nachricht erscheinen«, er klärte er. »Bei der anderen Vorgehensweise bedient man sich als Code winziger grafischer Details. Diese Form nennt man Sema gramm und sie erfreut sich vor allem unter Amateuren großer Be liebtheit. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die erste englische Über setzung von De augmentis scientiarum des jungen Francis Bacon aus dem Jahr 1623, bei der er zwei Schriftarten als binären Code benutzt hat.«
    »Etwas, was ich schon immer mal unbedingt erfahren wollte!«, sag te Alistair mit beißendem Spott. »Wenn mich jetzt der Sensenmann zum großen Abschied holen würde, könnte ich wenigstens sagen, mein Leben sei erfüllt gewesen!«
    Sogar Byron stimmte in das Gelächter seiner Freunde mit ein. »Al so gut, genug der Erklärungen. Kurzum: Mortimer hat sich hier mit einem Semagramm im Gästebuch verewigt. Dass die ersten beiden Gedichte unvollständig blieben, hängt vielleicht damit zusammen, dass die restlichen Zeilen nicht jene Buchstaben hergaben, die er für seine Botschaft benötigte. Wir brauchen uns deshalb wohl nur auf das letzte Gedicht zu konzentrieren, auf Abschied von Eichen dorff.«
    »Aber wo siehst du denn da zwei Schriftarten?«, fragte Harriet. »Ich sehe in allen Zeilen nur Mortimers vertraute Handschrift, wenn auch nicht ganz so krakelig wie viele Passagen in seinem Notiz buch.«
    »Dies ist ja auch ein goldenes Buch«, merkte Horatio spöttisch an. »Da hat er sich wohl etwas mehr Mühe gegeben. Aber Harriet hat recht, ich kann auch keine unterschiedlichen Schriftarten entde cken.«
    »Die Abweichung

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