Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
führen.
Wie hatte die Menschheit ihm diese Reise gedankt! So viel zum Thema »besonders kostbare Perle«!
Der Papst betete. Nach einer Weile blickte er auf. Er war allein. Nun ja, beinah. Ohne Furcht beobachtete er, wie die neunundneunzig Lampen, die den Hochaltar erhellten, eine nach der anderen erloschen. Satan stieg herab. Bald würde es zum großen Treffen zwischen dem Reich der Erde und dem des Geistes kommen – die Zeit selbst verdichtete sich. Der Papst stand auf, stieg die Treppe zur Krypta unter dem Altar hinab und ging zum Grab des heiligen Petrus. Er hatte bereits angeordnet, der Welt zu verkündigen, dass er seine Aufgaben nicht mehr wahrnehmen werde,
urbi et orbi
.
Denn es wird eine so große Not kommen, wie es noch nie eine gegeben hat.
27
Grauen, Grube und Garn warten auf euch,
ihr Bewohner der Erde.
Wer dem Lärm des Grauens entflieht,
fällt in die Grube.
Wer aus der Grube entkommt, fängt sich im Garn.
Jesaja 24,17
A bend.
Im Weißen Haus betrat der Präsident der Vereinigten Staaten das Zimmer seiner kleinen Töchter Samantha und Ariel. Er setzte sich aufs Bett der Jüngeren und lauschte ihrem leisen Atmen. Eine Stunde zuvor hatte Jefferson seiner Frau geholfen, sie zu Bett zu bringen, aber er war so beunruhigt, dass er nicht arbeiten konnte, und ging noch einmal ins Schlafzimmer, um in der Nähe seiner Kinder ein wenig Trost zu finden. Während er sich im Halbdunkel als ihr unsichtbarer Beschützer fühlte, dachte er nach – über Dinge, die er vergessen hatte. Warum hatte er sie vergessen? Weil er ständig mit Politik beschäftigt gewesen war, mit Macht, mit Erfolg, damit, mehr als seine Mitmenschen zu erreichen. All das natürlich zum eigenen Vorteil. Also: Existierte Gott? Gab es einen Sinn im Leben jenseits von Geld und Erfolg – jenen Dingen, die er immer begehrt hatte? Heute hatte er dem italienischen Ministerpräsidenten den Wunsch abgeschlagen, seinen Sohn zu retten. Er hatte es getan, um das Land zu schützen. Doch die Wahrheit lautete: Martinelli hatte das Virus vielleicht schon in sich gehabt und auf ihn übertragen. Und jetzt übertrug er das Virus womöglich auf seine Kinder.
Der Tod.
Sosehr er sich auch gegen die Einsicht wehrte, der Tod war eine Tatsache. Irgendwann würde er ihn ereilen, so wie er seine Frau und seine Kinder ereilen würde. Aber der Tod – die Auslöschung – des ganzen Menschengeschlechts? Er stöhnte leise auf. Normalerweise hätte er überlegt, wie man die Probleme lösen könnte, er hatte nicht umsonst eine Ausbildung zum Rechtsanwalt durchlaufen, war nicht umsonst Politiker geworden. War er nicht ein Meister der Tatsachenverdrehung – ein Mann des festen Händedrucks und der ehrlichen Erscheinung? Nun, vor ein paar Monaten noch war er es gewesen. Aber das Meeressterben und der Kollaps des Finanzsystems hatten vieles verändert. Es waren Tiefschläge gewesen – nicht nur für das amerikanische Selbstvertrauen, sondern auch für seines. Trotzdem war sich Jefferson bisher tief im Inneren sicher, dass Amerika Wege aus dem Schlamassel finden würde. Der Staat hatte es noch immer geschafft. Wirtschaftliche Kraft, militärische Stärke, die Entschlossenheit seines Volkes – das Land besaß das alles im Überfluss. Aber dieses Mal hatten sich die Dinge gegen ihn gewendet. Seit der Schließung der Grenzen lag die Wirtschaft am Boden. Kriege im Ausland wurden nicht mehr geführt – jeder Staat nutzte seine Truppen, um das eigene Volk zu beherrschen. Und die Willenskraft des amerikanischen Volkes ließ nach, während sich eine Katastrophe an die nächste reihte. Wie viel mehr Pech konnte man haben?
Jefferson saß im Dunkel auf dem Bett, mit tief gesenktem Kopf. Seine Gedanken kreisten nicht mehr um das Land, sondern um ihn selbst. Das Leben? Hatte er alles richtig gemacht? Er hatte so gut wie alles erreicht, was sich ein Mensch auf Erden wünschen konnte, doch hatte er auch alles richtig gemacht? Am Beginn dieser Apokalypse war das Weiße Haus mit Anhängern der verschiedensten Religionen, die Hilfe und Gebete anboten, förmlich überschwemmt worden. Man hatte sie abgewiesen. Schließlich war Jefferson Atheist wie viele seiner Landsleute. Die globale Wirtschaft und die Verfeinerung des Menschen hatten Gott als unproduktives Extra »herausgetrennt«. Das Göttliche war überflüssig; es gab keinen Raum mehr dafür. Für Jefferson beruhte die Leugnung Gottes auf einer zentralen Prämisse, dass nämlich der Mensch Herr seines
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