Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
mit vielen Toten.«
»Wie viele?«
»Hunderte.«
»Aber ich habe den Militärs doch gesagt, sie sollen eine Ausgangssperre verhängen!«
»Es gibt eine. Kein Mensch hält sich daran«, erwiderte Tiziano sardonisch.
»Dann sollen die mehr Soldaten da hinschicken.«
»Sie haben nicht mehr.«
»Oh.«
»Außerdem ist die Epidemie in Florenz ausgebrochen: Die Menschen dort fallen auf der Straße tot um.«
»Fallen tot um?« Martinellis Stimme war voller Unglauben.
»Ja, sie sterben quasi im Stehen. Das Virus tötet die Menschen schneller, als wir geglaubt haben. Alte und Junge – sie sterben wie die Fliegen.«
Schweigen.
»Roberto, bist du noch da?«
Martinelli blickte an die Decke seines Badezimmers. Seine Gedanken schweiften ab. Als er fünfzehn war, hatte seine Geschichtslehrerin, wie er sich erinnerte, den Schwarzen Tod durchgenommen. Vor seinem inneren Auge sah er sie, wie sie vor der Klasse stand. Signorina Barbella, so hieß sie. (Er himmelte sie an, aber sie war zu klug für ihn.) Er erinnerte sich, wie sie der Klasse erzählte, dass die Menschen während der Pest morgens zur Arbeit gingen und nicht wieder nach Hause zurückkehrten. Manche fielen mitten im Gespräch auf der Straße um – starben. Und Martinelli erinnerte sich deutlich an die jähe Stille – diese unerwartete, schreckliche Stille –, während eine Klasse ausgelassener Jugendlicher versuchte, das Unbegreifliche zu begreifen. Jetzt herrschte diese Stille in ihm.
»Herr Ministerpräsident?«
»Sprich weiter«, sagte er mechanisch.
»In Venedig sieht’s nicht gut aus, die Leute werfen die Leichen in den Canal Grande.«
»Öffne Notfallfriedhöfe und schick Totengräber hin.«
»Das haben wir schon getan.«
Martinelli atmete tief durch. Wenn das nur der Beginn war, wie würde es dann in ein paar Tagen im Land aussehen? Passierte das Gleiche auch in anderen Ländern?
»Ich rufe dich zurück.«
Martinelli wählte seinen Außenminister an, dem er aufgetragen hatte, Informationen über andere Länder zusammenzustellen. Die Lage in Italien fand ihre Entsprechung auf dem gesamten Globus, samt dem damit einhergehenden Chaos: kriminelle Banden kämpften um Lebensmittel und Wasser. Martinelli tätigte weitere Telefonate mit verschiedenen Kabinettsmitgliedern, und auch sie hatten nur düstere Nachrichten. Sie hatten Angst, Angst als Minister, aber noch mehr Angst als Menschen. Nachdem er sich ihre Klagen in Ruhe angehört hatte, stieg Martinelli langsam aus der Badewanne. Noch langsamer trocknete er sich ab und streifte einen Pyjama über. Als er auf der Bettkante saß, überfiel ihn Panik. Die Streitkräfte verloren die Kontrolle, und er auch. Das durfte nicht geschehen. Außerdem war die Demokratie am Ende; die Diktatur stand bevor. Er würde herrschen wie der alte Cäsar. Es ging nicht anders, oder? Entweder das oder Anarchie. Aber er brauchte jemanden, der ihn tröstete.
»Tiziano, wo bist du gerade?«
»Im Amt für Staatssicherheit.«
»Flieg nach Bari! Heute Abend.«
»Heute Abend? Roberto, ich bin müde.«
»Ja, heute Abend. Nimm einen Heli und hol Caterina!«
»Ich habe doch versucht, sie zu überreden, aber sie will bleiben.«
»Hol sie!«, brüllte Martinelli. »Das ist ein Befehl. Verstanden?« Plötzlich rastete er aus, schrie eine Obszönität nach der anderen ins Telefon.
»Ist ja schon gut«, sagte Tiziano, während er sich an seinen Schreibtisch setzte und sich eine Zigarette anzündete. Der Chef verlor die Nerven.
»Sie wird mitkommen«, sagte Martinelli, ruhiger geworden. »Ich weiß es. Sie hat einfach nur Angst vor der … Seuche.« Zum ersten Mal benutzte er dieses Wort.
Nach den Telefonaten ging der italienische Ministerpräsident zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Er wusste nicht, warum, aber ein Grund konnte sein, dass sein Gewissen ihn endlich plagte. Und noch etwas fiel ihm ein: Jemand hatte seinen Anruf nicht erwidert.
Der Papst.
35
…darum wird eure Schuld für euch sein wie ein
herabfallendes Bruchstück von einer hoch aufragenden Mauer,
die dann plötzlich, urplötzlich einstürzt.
Jesaja 30,13
D addy, warum müssen wir nach Hawaii fliegen?«
David Jefferson drückte seine vierjährige Tochter Ariel fest an sich und log.
Lügen war verzeihlich. Manchmal mussten Eltern ihre Kinder anlügen, nicht wahr? Selbst wenn der Vater der Präsident der Vereinigten Staaten war. Lügen war notwendig, um eine Diskussion über unangenehme Realitäten zu vermeiden. Aber wie stand es mit dem
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