Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
Ministerpräsidenten.
Alles ist eitel.
Zunächst war nur eine geringe Zahl von Menschen an der Virusepidemie gestorben. Jetzt stieg die Zahl steil an – so wie es im Fall des Schwarzen Todes geschehen war. Er und seine Freunde hatten fast tausend Todesfälle in Italien vertuscht, im Glauben, die Seuche würde womöglich wieder verschwinden. Aber das war ein Irrtum gewesen – dadurch hatte man dem Virus einfach nur die Gelegenheit gegeben, die Bevölkerung zu infizieren. Diese erlebte die Auswirkungen des Fehlurteils direkt vor ihren Augen, während Angehörige und Freunde und Kinder starben. Gestern waren an nur
einem
Tag in Italien fünftausend Menschen an der Virusepidemie gestorben, und das war nur die offizielle Zahl. Die Dunkelziffer lag mit Sicherheit um ein Vielfaches höher.
Martinelli saß reglos in der Badewanne. Ständig erschienen ihm Bilder vor dem inneren Auge. Sein Sohn Marco – seine große Hoffnung für die Zukunft. Er hätte den Jungen zum Präsidenten gemacht. Sie hätten gemeinsam eine politische Dynastie gegründet und sich mit Ruhm überhäuft. Was war aus diesem Ehrgeiz geworden? Er war tot – so tot wie sein Sohn. Seine Frau Clara. Sein letztes Bild von ihr: das Küsschen auf die Wange, das sie ihm gegeben hatte, bevor sie in die Limousine stieg, um nach Bologna zu fliegen, weil er darauf bestanden hatte. Die Art und Weise, wie sie sich umgedreht und beinahe verbittert gesagt hatte:
»Ciao!«
Was für ein Gesicht sah er da? Das Gesicht einer Sechzigjährigen, gut geschminkt, um die Falten zu überdecken. Das Gesicht einer Frau, die ihre Traurigkeit über die ständige Untreue ihres Mannes verbarg und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Als Martinelli vor einigen Wochen ihr Gesicht gesehen hatte, konnte er es nicht entziffern. Während er in der Badewanne lag und jetzt darüber nachdachte, konnte er es. Es war auch das Gesicht einer Frau, die aufgehört hatte ihn zu lieben, genauso wie das Gesicht seines Sohnes, wie er rückblickend erkannte, das eines jungen Mannes war, der ihn nie geliebt und es auch nicht versucht hatte. Für immer verschwunden – Gesichter, die ihm so viel bedeutet hatten. Wenn er den Film des Lebens doch nur zurückdrehen könnte!
Dass ihm diese Menschen entrissen worden waren, stellte einen Verlust dar. Also musste er diesen Verlust und die Abwesenheit dieser Menschen schnell wettmachen. In seinem Herzen tat sich ein klaffendes Loch auf, das er füllen musste, bevor ein Abgrund an Einsamkeit daraus wurde. Seine Geliebte Caterina weigerte sich noch immer, nach Rom zu kommen. Selbst als er Tiziano losgeschickt hatte, um sie zu holen, weigerte sie sich, und trotz des Befehls hatte es sein Geheimdienstchef nicht über sich gebracht, sie zur Rückkehr zu zwingen.
Was sollte er machen? Vor dem Tod seiner Familie hatte Caterina bloß ein weiteres Stück Fleisch auf seinem Tisch bedeutet. Doch jetzt war das anders. Martinelli brauchte sie, damit sie sein Leid mittrug. Schließlich musste ihm jemand helfen; sonst würde sein Leid ein so großes Kreuz, dass er es nicht mehr tragen konnte.
Noch ein Gesicht kam ihm in den Sinn, ungewollt: das seines Gesundheitsministers. Bereute er dessen Ermordung? Der Mord war unter den Umständen unausweichlich gewesen. Der Kerl war unzuverlässig, und Martinelli hatte keine Lust, unter den Knüppeln eines aufgebrachten Mobs zu sterben. O nein! Das war nicht das Ende, das er für sich plante.
Sein
Tod musste glanzvoll und ehrenvoll sein, zum Abschluss eines langen politischen Lebens, dann, wenn er alles bekommen hatte, was er wollte. Sein Tod musste eine triumphale Prozession zum Grab sein, kein armseliger Abgang.
Eitel, eitel, alles ist eitel.
So lautete das Bibelzitat, aber die Bibel war bloß eine Ansammlung von Legenden und schlechter moralischer Logik. Trotzdem anerkannte Martinelli, dass er ein Problem hatte, und zwar eines, das sich auf ihn bezog. Die Kontrolle über sein Leben entglitt ihm. Er konnte es geradezu fühlen – so, als würde eine geheimnisvolle, bösartige Gestalt ihm seine Besitztümer stehlen. Es gab nur eine Möglichkeit, das zu verhindern: Er musste seine Macht festigen, denn seine Kontrolle über die Macht war dasselbe wie seine Kontrolle über das Leben. Martinelli beugte sich aus der Badewanne und rief seinen Geheimdienstchef an. Er verließ sich mehr denn je auf Tiziano, der alles für ihn sah, alles hörte.
»Was gibt’s Neues?«
»In Genua und Bologna ist es zu Krawallen gekommen –
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