Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
chinesische Papst Johannes XXVI . verzog keine Miene. Er hatte sich das Gemälde genau angesehen: die ausdrucksstarken Farben, die gekreuzigten Leiber, die sich aufbäumen wollten, um einen letzten Atemzug zu tun, die völlige Gleichgültigkeit der meisten Anwesenden und eine einfache Frau aus dem Volke, die auf ihren Sohn schaute, zu traurig selbst zum Weinen. Er hob den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gesehen.«
Schweigen entstand unter den Kardinälen, die rings um ihn standen. Der Papst galt als Mystiker, und nicht wenige im Vatikan glaubten, dass er der Mutter Gottes begegnet war oder sogar mit ihrem Sohn gesprochen hatte. Allem Anschein nach traf das aber nicht zu.
»Wie ist die Kreuzigung eigentlich abgelaufen?«, fragte ein österreichischer Kardinal neugierig und weil er sich unbedingt zu Wort melden wollte. Er hatte fünfzig Bücher über Christus geschrieben und wusste, aus einem intellektuellen Blickwinkel betrachtet, alles über den Sohn Gottes. Er hatte die Tiefen des Mysteriums ausgelotet.
»Furchtbar. Wir wären alle davongelaufen«, erwiderte der Papst.
Tiefes, hörbares Durchatmen. Alle fanden die Unterstellung, die großen Kirchenfürsten hätten sich als Feiglinge erwiesen, empörend. »Natürlich nicht«, hauchten ihre Egos. »
Ich
wäre nicht geflohen.« Was hätten sie also getan? Hätten sie sich nach vorn gedrängt, durch die Menschenmenge hindurch, und von den Römern verlangt, die Hinrichtung zu stoppen? Hätten sie versucht, die Männer am Kreuz zu retten (oder nur einen von ihnen)? Oder hätten sie – so wie alle guten Würdenträger des Vatikans, die wussten, wie man das Beste aus einer schlimmen Lage macht – laut gehüstelt und ausgerufen: »Das Rechtssystem in diesem Land ist schockierend! Ein Unschuldiger stirbt!« Dagegen muss doch jemand etwas tun! Und wären dann davongeschlichen, ohne selbst irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen?
»Es ist ein gutes Gemälde«, bemerkte der Papst.
Das rief Befremden hervor. Oje! Einige Kardinäle hatten das Gegenteil gesagt. Vertan die Chance, an einer der Auslandsreisen des Papstes teilzunehmen. Äh, vielleicht hatten sie den inneren Wert des Gemäldes doch nicht richtig gewürdigt? Werfen wir noch mal einen Blick drauf. Der wortgewaltigste Kritiker des Gemäldes, Kardinal Aristo, ein rundlicher Mann aus Bologna, dessen Zunge schlüpfriger war als eine Olivenpresse, rief aus: »Das Bild hat natürlich Gefühl!«
Ah ja, Gefühl! Das rechte Wort! Warum war niemand anderer darauf gekommen? Nachdem die wahren Verdienste des Kunstwerks also bestimmt waren, lautete die nächste Frage: Was soll man damit machen? Es handelte sich um ein Geschenk des spanischen Königs, da konnte man es ja wohl kaum in einer Toilette aufhängen. Entweder man schickte es (wie üblich) in eines der riesigen Lagerhäuser, in denen Geschenke und anderer Krempel klammheimlich entsorgt wurden, oder man schenkte es einem Kloster mit der Begründung, dass das Geschenk
an
den Papst jetzt ein Geschenk
vom
Papst war.
»Ich hänge es in meiner Kapelle auf«, sagte Johannes XXVI .
Also, damit war das Problem gelöst; es konnte sich all den anderen zugesellen. Ein Vatikan-Mitarbeiter betrat den Raum.
»Eure Heiligkeit«, sagte er leise, »die Herzogin von San Marco ist eingetroffen, um ihr Kind taufen zu lassen.«
Der Papst erhob sich von seinem Stuhl; noch eine offizielle Aufgabe, die zu erledigen war. So ging es den ganzen Nachmittag. Präsidenten, Könige, Königinnen, Adlige und Parvenüs, sie alle wollten das Kirchenoberhaupt treffen – den Mann in Weiß. Diese Treffen waren das Entscheidende, um ihren hohen sozialen Status zu betonen und ihre Fähigkeit, beim unzugänglichsten Menschen in der Welt eine Privataudienz zu erhalten. Natürlich stellten diese Besucher dem Pontifex keine komplizierten theologischen Fragen. Nicht einmal hinsichtlich jener Bibelstelle, die in ihrem Fall wegdisputiert werden musste.
(Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.)
Nein, sie wollten nur neben dem Mann stehen, der Gott am nächsten stand. Und auf das obligatorische Foto kommen, auf dem sie die Hand des Pontifex hielten und ein maliziöses Lächeln aufsetzten. Warum? Weil sie in der Stunde ihres Todes – wenn ein Engel kam, um diese Archonten der Welt davonzutragen – die Ersten wären, die ausrufen würden: »Hölle? Fegefeuer? Nicht mit mir! Ich bin ein Freund des Papstes. Ich kenne die richtigen
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