Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
echt oder nicht? Eine überaus komplizierte Frage.
Der Vatikan war sich aufgrund langer, schmerzvoller Erfahrungen sehr wohl bewusst, dass Frömmigkeit nicht selten die Grenzen zum Wahnhaften und Hysterischen überschritt, und selbst die am höchsten verehrten Heiligen waren vielfach unsicher, ob sie von Engeln besucht worden waren oder ob sich die Pilze, die sie zu Mittag gegessen hatten, durch ihren Verdauungstrakt gearbeitet und ihre geistige Wahrnehmungskraft verwüstet hatten. Die Probleme, das Göttliche zu erkennen!
Eines jedoch stand – Gott sei Dank – fest. Berichte über Erscheinungen der Apostel waren selten, hauptsächlich deshalb, weil niemand eine Ahnung hatte, wie sie aussahen, und kaum jemand sich an ihre Namen erinnern konnte. Für die Hysterischen und die, die sich nach Aufmerksamkeit in den Medien sehnten, war es fürs Image weitaus weniger förderlich, zu behaupten, ihnen sei der heilige Wiehießernochgleich erschienen statt die Mutter Gottes. Auch würde kein männlicher Heiliger jemals einer Nonne erscheinen wollen, für den Fall, dass er dadurch sexuelle Phantasien bei ihr hervorrief. Es war sicherer, wenn Priester nur durch Erscheinungen von männlichen Heiligen und Nonnen von weiblichen gesegnet wurden. Abgesehen natürlich von den Erscheinungen des Sohnes – oder der Mutter – Gottes. Da diese göttlich waren, bestand keine Gefahr, dass sie unziemliche Gedanken auslösten – auch wenn der Sohn Gottes von seinen weiblichen Anhängerinnen häufig so beschrieben wurde, dass er schön sei wie ein Gemälde Raphaels und dazu noch ein paar kräftige Muskeln besitze. Keinem europäischen Heiligen, der eine mystische Vision hatte, war er je als Zwerg erschienen. Als hässlich. Mit fleckiger Haut oder schlechten Zähnen. Zu bedauern waren also alle, die solche Eigenschaften besaßen und sich einen Erlöser wünschten, der Mitgefühl mit ihnen hatte.
Aber ein hässlicher Christus würde niemals erscheinen, denn der Vatikan war der Schutzherr des Aussehens des Erlösers, und zwar seit Jahrhunderten – seit die Kirche künstlerische Darstellungen des Gottessohnes gestattete. In einem Gemälde nach dem anderen wurde Christus als schlanker, gutaussehender junger Mann porträtiert, nicht sehr muskulös (aber bestimmt auch nicht weichlich), mit sanften Gesichtszügen und resignierter Miene. Die Augen waren niemals schwarz (das wäre satanisch gewesen), vielmehr waren sie oft blau, von einer irgendwie skandinavischen Intensität. Oder braun, mit sanftmütigem, frommem Ausdruck. Das Haar war stets gepflegt, und zwar auch dann noch, wenn er sich im Todeskampf wand. Diese zuckersüße Vision eines hochgewachsenen, attraktiven, fast nordischen jungen Mannes – die zarten Knochen gebrochen an einem Kreuz, an dem er aufrecht hing – herrschte über Jahrzehnte fort, bis schließlich (meist) nicht-religiöse Künstler die Echtheit des sorgfältig genährten Klischees in Zweifel zogen.
Wäre man bei der Kreuzigung des Gottessohnes zugegen gewesen, was hätte man da tatsächlich gesehen? Wenige – selbst unter Frommen – haben darüber nachgedacht. Die der Hinrichtung beiwohnende Menge hätte sich wahrscheinlich von den anderen Anwesenden unterschieden, bei denen es sich vermutlich um die Opfer der Straftat oder ihre Familienangehörigen handelte. Die Gaffer hätten sich wohl nicht die Gelegenheit entgehen lassen, der Kreuzigung von Mördern, Räubern und Dieben beizuwohnen. Dann gab es da vermutlich die Stammgäste, die, wenn sie nicht die Gladiatoren- oder Tierkämpfe in den Stadien besuchten, die es überall in Palästina gab, kamen, um sich zu unterhalten und (vielleicht) zu genießen, dass Gerechtigkeit nicht nur geübt wurde, sondern dass auch zu sehen war, wie sie in all ihrer blutigen Herrlichkeit waltete. Und schließlich wären da die römischen Soldaten gewesen, die zu diesem Dienst abkommandiert und für ihre Mühe gut entlohnt wurden.
Bei der Kreuzigung Christi jedoch – sie fand unmittelbar vor einem bedeutenden jüdischen Fest statt – wären wohl viele Besucher in der Stadt gewesen, die sich unbedingt die Sehenswürdigkeiten ansehen wollten. Auch wären zahlreiche Kleriker anwesend gewesen, begierig mitzuerleben, wie diese Person – dieser Aufrührer und falsche Prophet – zum Tode verurteilt wurde. Schließlich verlangte die Religion das: In der Bibel stand klipp und klar, dass falsche Propheten getötet werden mussten. Hatte Gott nicht selbst die gerechte Strafe
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