Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
nicht zu erkennen.
»Komm, setz dich!«
Der junge Mönch versetzte Josua einen leichten Schubser. Dann ging er und schloss laut scheppernd die Kirchentür. Josua nahm auf einer Holzbank Platz, gegenüber seinem spirituellen Führer. Sein erster Eindruck: Der Mann in der verblichenen braunen Kutte sah ihm gar nicht unähnlich, mal abgesehen davon, dass er viel älter war. Er musste Ende siebzig sein. Außerdem war er ziemlich klein und hässlich, besser gesagt: unscheinbar. Niedrige Stirn, kräftige, breite Nase, rundes Kinn – der alte Mönch sah fast so aus wie er. Aber es gab auch Unterschiede. Die Haut ähnelte zerknittertem Pergament, die Augen wirkten trüb, und von der ganzen Person ging eine große Müdigkeit aus, wie sie da ein wenig zusammengesunken auf der Holzbank saß. Der alte Mann hatte sicher ein schweres Leben gehabt. Außerdem merkte Josua, dass es ihm nicht gutging. Er spürte sein eigenes Ungenügen und stotterte eine Entschuldigung.
»Es tut mir leid, dass ich die Antwort nicht gewusst habe. Ich bin ungebildet.«
Der Mönch schlug die Augen auf.
»Ich …« Josua zögerte.
Der Mönch schwieg weiter. Josua war unbehaglich zumute und machte Anstalten aufzustehen, aber der Mönch schüttelte den Kopf. Er reichte Josua eine Bibel mit schwarzem Ledereinband, die er in der Hand gehalten hatte. Eine koptische Bibel. Ein Satz war unterstrichen.
»Lies das!«
»Lasset die kleinen Kinder zu mir kommen.«
»Was bedeutet das, Josua?« Der Mönch sprach ihn mit Namen an.
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht. Das ist genau richtig.« Die Stimme des Mönchs klang leise und rauh. »Gott ist an all jenen interessiert, die nichts wissen, Josua. Kinder halten sich nicht für spirituell fortgeschritten. Wenn du dich für spirituell fortgeschritten hältst, was brauchst du dann Gott? Vor lauter Überheblichkeit hast du bereits entschieden, wer Gott ist.«
Josua war so verdutzt, dass ihm keine Antwort einfiel.
»Komm in einer Woche wieder!« Der Mönch nahm die Bibel und blätterte darin. Und da merkte Josua, dass der Alte fast blind war. Er reichte seinem Schützling das Buch. »Was steht da?«
»Gott schuf also den Menschen nach seinem Abbild.«
»Meditiere darüber.«
* * *
»Was hat er gesagt? Erzähl’s mir!«, fragte Pater Jussef. Er hatte gehört, dass Josua endlich beim Mönch gewesen war. Und dieser hatte, zweifellos, über Josuas scharfsinnige Antwort gestaunt. »Hast du geantwortet, wie ich dir gesagt habe?«
»Nein.«
»Nein? Warum denn nicht?«, schrie sein Mentor. Josua hatte es vermasselt.
Während Josua berichtete, was der Mönch gesagt hatte, hörte Jussef ärgerlich schweigend zu. Auf eine solche Antwort wäre er nie gekommen, selbst wenn er bis in alle Ewigkeiten nachgedacht hätte. Aber stimmte die Antwort denn? Jussef erkannte zwar, dass in den Worten des alten Mannes Weisheit lag, begriff aber nicht, dass sie sich auch auf ihn bezogen. Stolz blähte sich die Brust des Priesters.
»Das ist doch Unsinn«, meinte er abfällig. »Ich sage dir jetzt mal, was ›Lasset die kleinen Kinder zu mir kommen‹ wirklich bedeutet.«
Er fasste seinen Schützling am linken Arm, ging mit ihm zu einer Palme und setzte sich auf den Boden. Im Osten ging die Sonne auf – ein gutes Omen, um mit seinem Religionsunterricht zu beginnen, denn er war (auch wenn andere das nicht wussten) ein Meister darin. Nach vierzig Jahren als Priester in Alexandria – wusste er da nicht alles über Gott? Spirituelle Weisheit wurde aus Büchern erworben, und Jussef hatte nicht wenige gelesen – darunter auch Auszüge aus der Bibel. Ehrlich gesagt, waren Letztere eine leichte Lektüre.
»Nein, Josua. Du musst dir vorstellen, dass Jesus mit seinen Jüngern zusammensaß und dass dort auch Dorfbewohner waren. Manche hatten kleine Kinder. Die Kinder wollten zu Jesus laufen, aber ihre Eltern hielten sie zurück.«
»Warum?«
»Nun, äh, vielleicht haben sie ihn für einen schlechten Menschen gehalten.«
»Warum glaubten sie das?«
»Sei ruhig und hör mir zu! Wo war ich noch gleich? Ach ja. Die Eltern haben ihre Kinder nicht zu ihm gehen lassen,
aber
Jesus sagte:« – Jussef senkte theatralisch die Stimme – »›Lasset die kleinen Kinder zu mir kommen.‹«
»Wie alt waren die Kinder?«
»Wie alt? Vielleicht drei, vier.«
»Waren auch Jugendliche darunter?«
»Nein«, antwortete Jussef ärgerlich. Er hatte den Faden verloren; ein Schüler sollte zuhören, wenn sein Lehrer sprach.
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