Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
in der Jugend ergeht, hatten sie nicht überdauert. Er war sechzehn, als seine Mutter bei einem Unfall ums Leben kam, in der Kleiderfabrik, in der sie arbeitete. (Der Vater hatte Alexandria vor Josuas Geburt verlassen und vergessen, seine Adresse zu hinterlegen.) Danach war er zu seiner alten Großmutter in ein ebenso ärmliches Viertel auf der anderen Seite der Stadt gezogen. Geld war immer knapp gewesen, aber jetzt musste er es verdienen. Er arbeitete in einer Autowerkstatt, und danach hatte er eine verwirrende Vielzahl schlecht bezahlter Jobs, bis er schließlich Taxifahrer wurde. Und dabei hätte er auch bleiben sollen. Aber vor einem Jahr hatte er wieder überlegt, Priester zu werden, und sich an die Kirchenleitung in Alexandria gewandt. Warum er das getan hatte, wusste er nicht genau. Es kam ihm nur so vor …
»Josua?«
Über ihm erhob sich die hagere Gestalt seines Lehrers. Jussef wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch die Stirn und bedeutete Josua aufzustehen.
»Ich habe überall nach dir gesucht. Versuchst du mir aus dem Weg zu gehen? Was hast du dem Mönch gesagt?«
»Nichts. Ich war mir nicht sicher.«
»Oh.« Insgeheim war Jussef erleichtert. Josua hätte vielleicht alles durcheinandergebracht. Auf Jussefs Gesicht zeigte sich ein – seltenes – Lächeln. »Also, ich habe die richtige Antwort gefunden. Ich bin ganz sicher.«
»Wirklich?«
»Ja«, fuhr sein Mentor aufgeregt fort. »Es ist ein Trick. Ein ganz gerissener Trick. Theodore will dich reinlegen.«
»Tatsächlich?«
»Ja.« Jussef fuhr sich zufrieden mit der Hand über den Mund. Er würde seinen Konkurrenten mit dessen eigenen Waffen schlagen. »Die Frage lautet: ›An welcher Stelle soll man mit der Lektüre der Bibel beginnen?‹ Du musst einfach schlau sein. Du entgegnest: ›Die Antwort hängt davon ab, wie viel spirituelles Wissen man besitzt.‹«
Jussef klatschte in die Hände. Das war doch eine brillante Antwort! Er hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht und war überzeugt, dass der Allmächtige ihm dabei auf die Sprünge geholfen hatte. Diesem superschlauen Kirchenmann würde er zeigen, wie man das theologische Spiel spielte.
Josua grinste. »Ist das die Antwort?«
»Sie wird genügen.« Jussef war außer sich vor Freude. Es passierte nicht allzu oft, dass er inspiriert war; ungefähr alle tausend Jahre. Aber diesmal hatte er das große Los gezogen.
Am Abend ging Josua früh zu Bett. Jetzt, wo er die Antwort hatte, würde er sicherlich gut schlafen. Aber es gelang ihm nicht. Stattdessen überfiel ihn eine tiefe Niedergeschlagenheit. Selbst wenn er diese Antwort gäbe: Was war, wenn der Mönch ihm eine weitere Frage stellte, und er konnte keine ebenso clevere Antwort liefern? Dann wäre er als Aufschneider entlarvt, und Jussef würde enorm enttäuscht sein. In seiner Qual stieg Josua aus dem Bett und sank auf die Knie. »Wie lautet die Antwort?«, fragte er Gott. Es wurde kalt in seiner Zelle, er blieb auf den Fersen sitzen, aber er bekam keine Antwort.
Kurz vor ein Uhr morgens klopfte es an seiner Zellentür. Josua beschloss, nicht aufzustehen. Was hatte es für einen Sinn? Er wusste ja nichts. Doch das Klopfen hörte nicht auf. Schließlich öffnete er die Tür. Der junge Mönch war gekommen, um ihn abzuholen.
»Bruder Theodore bittet um die Antwort auf seine Frage.«
Josua zögerte. Sollte er sagen, was Jussef ihm gesagt hatte? Die schlaue Antwort geben? Ja. Plötzlich wurde er rot. »Ich weiß es nicht«, murmelte er.
»Komm mit!« Eine Art Befehl.
Josua folgte dem jungen Mönch. Es war bitterkalt, und ihn fror in seiner dünnen Kutte. Die Kirche des heiligen Antonius lag zwanzig Meter entfernt von seiner Mönchszelle. In der Kirche brannte kein Licht, denn die Mönche begannen ihre Messe erst um zwei Uhr morgens. Als er das winzige Gebäude betrat (winzig im Vergleich mit ihrer Kirche in Alexandria), entzündete der Mönch eine Öllampe und ging den Mittelgang hinunter. Sie gelangten in den
khurus
– den Bereich zwischen dem Altarraum und dem Mittelgang –, in dem Holzbänke standen. Der Altarbereich vor ihnen war mit uralten Wandgemälden, Christus und die Opferung Isaaks darstellend, geschmückt. Josua warf einen kurzen Blick auf den Hochaltar, über dem eine Öllampe brannte. Und plötzlich ging ihm auf, dass sie nicht allein waren. Rechts von ihnen, auf einer Holzbank im rückwärtigen Teil des
khurus
, saß ein alter Mann. Er hielt die Augen geschlossen; ob er schlief oder nachdachte, war
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