Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
die ganze Menschheit töten.«
19
Nein, wahrhaftig, nie tut Gott unrecht und der
Allmächtige beugt nicht das Recht.
Hiob 34,12
J osua saß im
khurus
des Klosters des heiligen Antonius. Ihm gegenüber saß Bruder Theodore. Er las laut vor:
Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf der Erde.
Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Das sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
»Was bedeutet das?«
Josua überlegte. Wenn Theodore recht hatte, hatte die Bibelstelle nicht nur eine menschliche, sondern auch eine spirituelle Bedeutung. Was die menschliche Dimension betraf, so lag die Antwort auf der Hand. Die Juden forderten Gott auf, sein Recht auszuüben, so harsch es auch war. Die Frau hatte Ehebruch begangen. Das stand fest. Sie leugnete nicht, beim Geschlechtsverkehr mit einem verheirateten Mann ertappt worden zu sein. Und – später – ermahnte Christus sie, nicht weiter zu sündigen. Nach Josuas Meinung hatte der Sohn Gottes sich vor einer definitiven Antwort gedrückt. Anstatt zu sagen: »Der Fall ist klar und abgeschlossen. Steinigt sie zu Tode«, so wie das jeder aufrechte Richter getan hätte, hatte Christus etwas auf den Boden geschrieben, als wäre Er gelangweilt oder sich unsicher. Und als Er dann doch eine Antwort gab, war sie unbefriedigend. Er riet den Pharisäern und Schriftgelehrten, die Frau nur dann zu verurteilen, wenn sie selbst ohne Sünde seien. Würde dieser göttliche Rat jedoch generell auf alle Verbrechen angewendet, so würde die Welt im Chaos versinken, weil kein Richter – so gerecht er auch war – je ohne Sünde war. Und schließlich: Warum verurteilte Christus – der ohne Sünde war – die Frau nicht? Wollte sich Gott nicht an Sein eigenes Gesetz halten? Aber Er hatte es doch überhaupt erst erlassen. Was für ein Schlamassel.
Zögernd erläuterte Josua dem Mönch seine Zweifel. Weitere Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Hatte Christus die Ankläger womöglich kritisiert, weil sie die Frau verurteilen wollten, ohne sich an das korrekte gerichtliche Verfahren zu halten? Die Frau hätte vor ein rechtmäßig ernanntes Gericht gestellt werden müssen, man hätte sie nicht durch diesen Ad-hoc-Prozess verurteilt dürfen. Die Pharisäer hatten kein Recht, sie unvorschriftsmäßig anzuklagen, außerdem ging es ihnen darum, Christus mit einem Trick dazu zu bringen, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen – etwas, dessen Er sich durchaus bewusst war. Als ganz normaler jüdischer Rabbi war er nicht befugt, als Richter zu amtieren; dazu wurden andere von der Obrigkeit ernannt. Aber vielleicht steckte mehr dahinter? Möglicherweise kritisierte Christus ja die Strafe. Die Strafe für bestimmte moralische Vergehen sollte Gott überlassen bleiben und nicht auf die gleiche Weise geahndet werden wie gewöhnliche Verbrechen.
»Warum hat Christus etwas auf den Boden geschrieben?«
Josua schaute den alten Mönch an, während dieser die Frage stellte. Da überkam ihn ein außergewöhnliches Gefühl – das er noch nie gehabt hatte, ein intensives Gefühl nahe dem Herzen. Verstand und Emotionen flohen ihn. In seinem Geist formte sich eine Vorstellung. Er sah einen Mann, der etwas schrieb, in den Sand. Was bedeutete dieses spirituelle Symbol? Was immer es bedeutete, er wusste, dass – weil Christus Gott war – alle Handlungen Christi letztlich allgemeingültig waren und für alle spirituelle Zeit galten.
Josua spähte in ein Mysterium.
Er wurde Zeuge eines Ereignisses, das zwar auf Erden stattgefunden hatte, auf der spirituellen Ebene aber noch immer stattfand. Eines der bedeutendsten
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