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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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nicht antwortete, war Sürich. Und wer um zehn Uhr in sein Zimmer stolperte, ohne sich um die Wirtschaft zu kümmern, war Sürich. Nun, am Morgen war er tot. Es wäre immerhin interessant, die Ursache zu erfahren. Vielleicht hat er selbst – nun, nun, was gibt's?«
    Agathon hatte mit den Händen Gudstikkers Arm umklammert und schwankte, als ob er zu Boden sinken wolle. Gudstikker schüttelte den Kopf und warf den Zigarettenstumpf weit über die Gasse. Agathon blickte ihn gespannt an beim matten Schein des Straßenlichts, als ob er sein Gesicht nie wieder vergessen wollte und ging dann weg, ohne ein Wort zu sagen, dem Löwengardschen Palast an der nächsten Ecke zu. Scheu betrat er das breite, lichtgebadete, mit Teppichen belegte Vestibül. Der Plafond und die Wände waren von Künstlerhand mit Darstellungen aus der antiken Mythologie geschmückt. Vor ihm stand wie eine lebende Gestalt Kassandra, den Arm gegen das brennende Troja erhoben. Sie war fast nackt, die Brüste waren geschwellt von Haß. Stets mußte Agathon die Augen vor dem Bild niederschlagen. Die dem Juden angeborene Scham vor dem Nackten ging bei ihm bis zu physischem Schmerz. Auch wurden seine Sinne erregt, wenn er in der Nacht sich des Bildes erinnerte.
    Stefan Gudstikker wandte sich gegen den Lilienplatz, lauschte mit gesenktem Kopf auf das Stimmengewirr aus den Gasthäusern, das mit dem Wimmern der Geigen und dem Fistelgesang der Harfendamen vermischt war. Schweigend zogen Musikanten an ihm vorbei und der Älteste zählte die Tageseinnahme. Gudstikker sah das alles mit den Augen des Beobachters, der sich freut, daß ihm nichts von den kleinsten Dingen des Lebens entgeht und den die Gewohnheit des Scharfsehens dazu verführt hat, den vielgestaltigen Bau der Welt mit Sprüchen der Weisheit zu beleuchten.
    Der kalte Glanz des Mondes brach hervor. Gudstikker ging am Rand der Anlage auf und ab und spähte gegen die Straßenflüchte. Die Turmuhren schlugen acht, kreischend fielen die Rolläden herab, die kleinen Ladnerinnen eilten von dannen, und die Kontoristen drehten die gesunkenen Schnurrbartspitzen wieder empor.
    Endlich kam Käthe Estrich. Mit schwachem Lächeln hing sie sich an den Arm ihres Verlobten. »Ich mußte mich fortstehlen,« sagte sie, »der Vater hat geschimpft über dich. Er nannte dich Müßiggänger. Sie plagen mich mit dir und quälen mich. Bist du bös? Nicht bös sein! Ich hab' ja nur dich, nur dich allein.«
    »Ich bin nicht bös, aber du darfst nicht so dumm reden. Wie geht's dir?«
    »Schlecht.«
    »Warst du beim Arzt?«
    »Nein.«
    »Nein! – Wenn dein Herr Vater sich besser um dich gekümmert hätte, das wäre eine größere Heldentat, als meine Lebensführung zu kritisieren.«
    »Ach, Stefan, ich möchte sterben, – mit dir.«
    »Sterben! ja, wenn sonst nichts wäre, als sterben. Das bleibt einem jeden. Es ist das Sicherste und soll das letzte sein.«
    »Du bist so kalt!« flüsterte Käthe und schauerte zusammen, als ob diese Kälte sie frösteln mache. »Ich muß wieder heim,« fuhr sie mit derselben leisen Stimme fort; »ich wollte dich nur sehen.« Gudstikker mußte sie fast tragen. Als sie am Ziel waren, küßte er sie flüchtig auf die Wange und ging.
    Unter dem Portal des jüdischen Waisenhauses, wo er vorbeikam, stand ein Knabe und blickte mit ängstlichen Augen in das erleuchtete Treppenhaus. »Wie heißt du?« fragte Gudstikker und beugte sich herab zu dem Kind, das seine Finger in den Mund steckte und verlegen zu Boden sah. »Wie heißt du?« wiederholte er streng.
    »Weiß nicht.«
    »Wem gehörst du denn?«
    »Weiß nicht.«
    »Wo ist denn deine Mutter?«
    »Tot.«
    »Und dein Vater?«
    »Auch tot,« sagte der Knabe, drückte sich scheu an ihn und fragte bang: »Bist du der Herr Jesus?«
    Da erschallte ein herzzerreißendes Schreien im Innern des Waisenhauses. »Hörst? Hörst?« machte der Knabe und, begann leise zu schluchzen.
    Gudstikker nahm das Kind bei der Hand und stieg mit ihm die Treppen hinan.

Viertes Kapitel

    Agathon ging in die Küche und aß, was man ihm an Überbleibseln und für die Tafel Unbrauchbarem gab. Dann stieg er in die Bodenkammer, wo er die Nacht verbringen durfte. Von unten klang Musik herauf, Gläserklingen, dumpfe Rufe der Fröhlichkeit, das Schlürfen des Tanzschrittes und das wogende Murmeln der Gespräche.
    Er wälzte sich lange Zeit schlaflos und ein bitteres Gefühl erfüllte sein Herz, daß er im Haus des reichen Verwandten auf Stroh unter dem Dach schlafen mußte; denn daß

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