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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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sonnige Ferne und murmelte: »Geliebt und verloren.« So saß er eine Stunde lang, ohne sich zu rühren. Plötzlich schob sich der Vorhang über dem Podium zur Seite, und der Kopf eines jungen Weibes mit nackten Schultern guckte heraus. Das Gesicht war leuchtend bleich, mit einer niederen Stirn, mit Augen von einem ruhigen, leidenschaftlichen Feuer, mit einem trotzigen Mund. »Holla Luisina! Es lebe das Proletariat!« rief eine heisere, aber jugendliche Stimme. Bojesen schaute hin, sah jedoch niemand. Das junge Mädchen nickte lächelnd zurück, prüfte Bojesen mit flüchtigem Blick und verschwand. Bojesen vergaß niemals den bösen Ausdruck des Gesichts in jener Sekunde, da sie ihn angeschaut. Wieder saß er lange, ohne zu wissen, was er tun oder denken sollte. Dann stand er auf, ging zum Podium, schlug den Vorhang zurück, und sah eine armselige Bühne vor sich, mit zerrissenen Kulissen an der Seite. In einer Ecke saß Luisina und lächelte ihn spöttisch an, als er auf sie zukam. »Wollen Sie spionieren?« fragte sie schroff. »Es steht Ihnen nichts im Weg. Mein Name ist Luisina Stellamare. Sie halten es für unwahrscheinlich? Sie glauben, daß ich Barbara Müller heiße? Möglich. Aber sobald es Ihr Amt erlaubt, bitte ich, mich des verdrießlichen Anblickes Ihrer Person zu entheben.«
    »Es lebe die Anarchie!« rief die exaltierte Stimme wieder. »Morgenröte! Fackeltanz! Meine Seele ist wie ein Lamm am Ostertag. Es lebe der Messias!«
    »Das ist der Glühende,« sagte Luisina, Bojesen zunickend. »Er ist meine Fanfare.« Sie lachte, und dies Lachen klang, wie wenn Glasscheiben klirren. Dann wurde sie wieder ernst, drohend und verächtlich ernst. »Ja,« sagte sie mit einem Wesen, als erachte sie ihre Worte als zu wertvoll, um gesprochen zu werden, »ich bin aus der Art geschlagen, ungeraten, landflüchtig. Ich lebe nun das Leben, wie ich es will, auf eigene Faust, auf eigene Taler, mit der Erlaubnis zu jauchzen, wenn ich will und zu lieben, wenn ich will. Wollen Sie noch mehr wissen? Meine Biographie ist erst nach meinem Tod zu haben.«
    »Ich bin der tanzende Stern des Chaos!« erschallte die Stimme des Glühenden; eine fette Stimme brummte befriedigt bravo.
    Bojesen hatte sich an eine Kulisse gelehnt und sah Luisina mit halbgeschlossenen Lidern unverwandt an. »Glauben Sie an Zufälle?« fragte er endlich. »Ich bin hier hereingekommen mit dem Bewußtsein, daß ich Ihnen begegnen würde. Meine Seele wußte davon. Ich kenne Sie nicht, wer Sie auch sein mögen, ich will Sie nicht kennen. Nur wünschte ich einen anderen Nahmen für dies Bild.«
    »Ach!« Luisina sprang überrascht und stirnrunzelnd auf. In ihrem Wesen war etwas so Fischhaftes, beunruhigend Lebendiges, daß Bojesen auf jedes ihrer Worte, jede ihrer Gebärden harrte. Sie kam auf ihn zu, lauernd wie ein Tiger, bohrte den Blick ihrer blauen Augen fest in den seinen und sagte: »Kommen Sie hierher, um den müden Mann zu spielen? Sprechen von Seele? Hier gibts keine Seele! Hier wird gelacht, getanzt, gesungen und getrunken, und wer hier eintritt, lasse seine Seele fahren. Ihre Dienerin, Monsieur.« Damit ging sie graziös und schnell.
    Und Bojesen ging auch, legte sein Geld auf den Tisch und ging. Er verlor sich selbst in der Nacht. Er zählte die Laternen in den Straßen. Dann stand er auf der Brücke und starrte in den Fluß und dachte nach, woher all das Wasser kam, wohin es ging; warum fließt es in weiten Streifen und Falten dahin, nicht glatt wie ein Glas? dachte er. Was rauscht es leise, was schlägt es an die steinernen Pfeiler?

    Es fließt der Fluß und stehet nicht
    Und Gott ist und vergehet nicht

    murmelte er vor sich hin. Er suchte ein kleines Gasthaus auf, wo er in einem harten Bett, in feuchter Kammer den Rest der Nacht schlaflos zubrachte, von einem Bild gepeinigt, das die wachen Glieder zittern ließ, bis der Leib unwillig zurückkehrte in die Finsternis der Kammer mit dem Lichtfleck von Fenster.
    Als er am Morgen dem Schulhaus zuschritt, dachte er an seine Frau daheim. Aber sie rückte ihm noch ferner in diesen Gedanken, als da er ihrer vergessen hatte; sie verschwand in dem Nebel, der die Gassen näßte und emporstieg zum Himmel, um selber während des Tages Himmel zu sein.
    Im Laboratorium lärmten schon die Schüler. Bei seinem Eintritt wurde es still, und alle erhoben sich. Die Bänke waren amphitheatralisch aufgebaut, Schränke mit Mineralien klebten an den Wänden. Auf dem langen Tisch standen und lagen Retorten, Brennapparate,

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