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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Röhren, Schmelztiegel, Drahtnetze, Flaschen und Schachteln. Bald nach Beginn des Unterrichts kam der Rektor; er übergab Bojesen ein kleines Schreibheft und sagte ernst: »Sie sind Ordinarius von Agathon Geyer. Lesen Sie dies und kommen Sie in einer Stunde aufs Rektorat.« Gnädig nickend verschwand er.
    Bojesen suchte sein Privatzimmer auf, wo ein starker Chlorgeruch herrschte. Auf dem Heft stand: Deutsche Aufsätze von Agathon Geyer. Bojesen blätterte bis zu dem letzten, vom Rektor signierten Thema: Was soll uns die Schule sein? und las zuerst ziemlich gleichgültig. Die Schrift war schlecht, schattenhaft, fieberhaft; die Buchstaben schienen aufeinander loszustürzen, besinnungslos hinzutaumeln, dann schien irgend einer plötzlich steif zu stehen, Halt zu gebieten, aber nichts konnte die allgemeine Verwirrung hemmen. Bojesen las mit wachsendem Erstaunen, erst kopfschüttelnd, dann errötend, dann erblassend, und als er am Schluß angelangt war, stützte er den Kopf in die Hand, nickte trostlos vor sich hin und begann das Stück des Schülers noch einmal zu lesen, bedächtiger und immer mehr verwundert, welch klare und fast dichterische Form die glühende Seele des Unmündigen gefunden hatte.
    Die Schule, so lautete der Aufsatz, sollte uns das Tor zum Leben aufmachen. Sie sollte uns erwachsen machen, mutig und gefahrenkundig. Sie sollte uns zu tüchtigen, edlen Menschen machen. Sie sollte uns die Lehrer lieben lehren und die Lehrer sollten uns lehren, das Leben zu lieben, den künftigen Beruf, die Menschen, die großen Männer der Vergangenheit, die großen Ideen, die Freude an der Freundschaft, an der Natur. Sie sollten uns überlegen sein. Sie sollten uns liebevoll entgegenkommen, damit wir froh würden. Aber ist das alles wahr? Bereitet uns die Schule für den Beruf vor? Wenn wir sie verlassen, wissen wir vielleicht, was wir werden sollen, aber nicht, was wir sind. Die Schule speichert Kenntnisse in uns auf, die tot bleiben. Wir werden in unserer Seele nicht harmonisch. Die Natur bleibt uns tot wie das Leben. Niemals werden wir ihre Sprache verstehen. Daran seid ihr schuld und ich muß euch anklagen. Warum kümmern sich die Lehrer nicht um die Seele der Schüler, sondern bloß um das, was sie gelernt haben? Warum bleiben wir die Stopfgänse, die ihr ausschimpft, wenn sie nicht beständig fressen wollen? Warum fürchtet man den Lehrer oder verachtet ihn, statt ihn zu lieben? Ihr seid die Feinde der Schüler, darum spionieren sie nach euren Schwächen; ihr sitzt auf dem Pult und seid wie ein Buch, statt wie ein Mensch. Was ihr sagt, ist euch leblos geworden, wes es euch langweilt. Warum seid ihr so hochmütig? seht auf uns herunter von einem Turm, so daß wir ganz klein sind? zu hochmütig sogar, um uns über das Wichtigste des Lebens aufzuklären? Warum eröffnet ihr uns nicht daß Geheimnis der Geburt? Warum tut das die Schule nicht, trotzdem sich so oft Gelegenheit bietet? Wie viel reiner bliebe dann die Phantasie der Knaben. Jetzt machen sie ellen Schmutz daraus und kichern, blinzeln, erröten bei jedem Gedicht eines Dichters, durchsuchen sogar die Bibel nach jenen Stellen, haben immerfort schmierige Heimlichkeiten. Ist das nicht schrecklich? Sie haben deshalb keine Ehrfurcht; vor keinem Menschen und keinem Ding und die ganze Welt ist ihnen etwas Klebrig-Unanständiges. Sie treiben Dinge, an die man nicht denken darf, ohne verrückt zu werden. Warum bemerken das die Lehrer nicht? Warum verhindern es die Lehrer nicht? Warum? Warum sitzt ihr auf eurem Pult und seid durch eine Mauer von uns getrennt? Niemals können eure Schüler glückliche Menschen werden, und daran seid ihr schuld mit eurem kalten, eisigen Herzen. Jeder, der ins Leben tritt, muß erst euch und eure Schule und eure Lieblosigkeit vergessen; vielleicht kann er dann Festigkeit erlangen. Aber glücklich wird er nie. Was ich geschrieben habe, mußte ich schreiben und jetzt ist um leicht. Eine unwiderstehliche Stimme im Innern hat mir befohlen.
    Bojesens Lippen zitterten und seine Arme; sein Leib zitterte. Es war etwas aufgewühlt in ihm, dessen er sich schämte: der Neid um diesen großen und ahnungslosen Wahrheitsmut. Er war so tief erschüttert, daß er den Raum, in dem er sich befand, nur wie durch Schleier sehen konnte. Im Treppenhaus läutete die Zehnuhrglocke, und er ging, seine Schüler zu entlassen. Dann schritt er selbst hinaus, durch die Korridore, trat an das hohe Fenster und sah in den Hof hinab, der auf allen Seiten von Mauern und

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