Die Juden von Zirndorf
Häusern eingeschlossen war. Er sah ins Gewühl der Knaben, die mit wildem Geschrei umhertollten, aber darin war nichts von Freiheitsgefühl und frischer Jugendlichkeit. Ja, er sah es mit seinen eigenen Augen: dies war das Jauchzen des Sträflings, dem die Kette gelockert wird, das krampfhafte, unwahrscheinliche Jauchzen des Rekruten am Sonntag, wenn er Heimat und Heimweh und Kaserne vergißt. Das war keine Jugend für den Gebrauch der kommenden Zeit, diese Jugend mit den umränderten Augen und hervorstehenden Backenknochen, dem zynischen brutalen schreiähnlichen freudlosen Lachen, den häßlichen Bewegungen und dem lichtlosen Blick. Das war eine vergängliche Sorte von Menschen, er sah es selbst.
Und als er weiterging, erblickte er Agathon, an einen Pfeiler gelehnt, allein. Als er den Lehrer gewahrte, wandte sich Agathon langsam und schritt in das Klassenzimmer. Bojesen folgte ihm (der Saal war leer) und machte die Tür zu. Agathon wurde leichenblaß und schloß wie im Schmerz die Augen. Bojesen nahm seine Hand, legte seine rechte Hand auf Agathons Schulter und sah ihn durchdringend an. Dann strich er mit der Hand über Agathons Haar, schmeichelnd und liebkosend, und niemals zuvor oder nachher hatte dieser ein solches Glücksgefühl gehabt, so unirdisch, grenzenlos und heiter. Der Kampf des Lebens lag vor ihm wie ein leicht lösbares Rätsel, dies Haus, diese Schulbänke schienen mit Glück verbrämt. Er verstand seinen Lehrer; er wußte, was die Berührung seiner Hand zu bedeuten hatte.
Eine Viertelstunde später wurde er zum Rektor gerufen.
Achtes Kapitel
Die Lehrer der Anstalt waren in dem großen, fünfeckigen Raum versammelt. Alle hatten ein feierliches Gesicht, und ihr Wesen war das von Leuten, die sich ihres Amtes und ihrer Verantwortung bewußt sind. Sie starrten Agathon an mit höhnischen oder vorwurfsvollen oder hochmütigen oder verwunderten Augen. Der jüdische Kantor zeigte eine so finstere und empörte Miene, daß man ihn nicht ansehen konnte, ohne sich als Verbrecher zu fühlen.
Der Rektor wandte sich auf seinem Drehsessel langsam um und bohrte den kalten Blick seiner tiefliegenden Augen in die Agathons. »Wie sind Sie dazu gekommen, Geyer, diesen – sagen wir impertinenten Artikel zu schreiben, dieses Pamphlet, wenn ich mich so ausdrücken darf?«
Der Kantor wollte reden, doch der Rektor winkte vornehm ab und fuhr mit erhöhter Stimme fort: »Ich frage, wie Sie dazu gekommen sind, die schuldige Ehrfurcht gegen Ihre Lehrer in so ungeheurer Weise zu verletzen? Ich glaube, meine Herren, wir haben hier einen Fall von geradezu typischer Bosheit vor uns. Dieser junge Mensch befindet sich auf der abschüssigen Bahn des Lasters. Er ist das bedauerliche Beispiel für das sittliche Niveau, auf dem unsere Jugend steht, und in einem solchen Falle muß mit aller verfügbaren Strenge vorgegangen werden; ein solcher Fall muß geradezu exemplarisch bestraft werden.«
Der Rektor hatte sich erhoben; seine schmetternde Stimme ließ den Raum erbeben; Agathon war es, als dringe sie durch Mauern, in alle Häuser der Stadt.
Wieder wollte der Kantor reden und abermals winkte ihm der Rektor zu, zu schweigen und fuhr fort: »Ich gestehe, daß mir ein ähnlicher Fall von Verworfenheit überhaupt noch nicht vorgekommen ist, und, hoffen wir zur Ehre unserer Anstalt, auch nicht mehr vorkommen wird. Geyer, wann haben Sie Ihr niedriges Skriptum verfaßt?«
»Gestern, Herr Rektor.«
»Lauter!«
Agathon schwieg.
»Lauter!«
»Gestern. Ich habe es laut gesagt, Herr Rektor.«
»In welcher Absicht?« fragte der Rektor, fast berstend vor Wut.
»In der Absicht, die Schüler glücklicher und besser zu machen.«
»Das ist eine infame Lüge!« schrie der Rektor wie außer sich.
»Es ist wahr,« erwiderte Agathon ruhig.
»Kreatur!« knirschte der Rektor, in dessen Mund das Wort eine zermalmende Bedeutung hatte.
Nun konnte sich der Kantor nicht länger bezähmen. Er trat vor, kreuzte die Arme über der Brust, beugte sich zurück und den Oberkörper beständig schaukelnd, sagte er mit scharfer, salbungsvoller Stimme: »Wer bist du? Hast du den Namen Gottes vergessen? Hast du die Ehre deines frommen Vaters vergessen? Bist du dir nicht selbst zur Last? Bist du Jude oder bist du's nicht? Ich verwerfe dich, stoße dich aus der Gemeinschaft der Guten hinaus, breche den Stab über dir.«
»Nein, ich bin kein Jude mehr,« sagte Agathon mit seltsamem Lächeln, ohne die klare Ruhe zu verlieren, die ihn bis jetzt erfüllt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher