Die Juden von Zirndorf
zaudernd Klarheit und Festigkeit gewänne. Dann stand Agathon auf (er war etwas größer als Bojesen), und sein Gesicht hatte sich mit schrecklicher Blässe bedeckt. Er deutete vor sich hin, sank auf die Knie und blieb so einige Sekunden.
»Was ist? was haben Sie?« fragte Bojesen bestürzt.
Agathon schüttelte den Kopf, und sein Gesicht verzog sich wie zum Weinen.
»Und was geschah dann weiter?« fragte Bojesen flüsternd, gegen seinen Willen und seine Vernunft ergriffen von der Sonderbarkeit des jungen Menschen.
»Das kann ich jetzt nicht sagen,« erwiderte Agathon. »Sürich Sperling starb in derselben Nacht.«
»In derselben Nacht?«
»Ja. Ich lag – und lag – und wünschte den Tod in sein Herz.«
Ungläubig und staunend schaute Bojesen in das erschütterte Gesicht des Jünglings. Er schloß die Augen; ihm schwindelte. Als Agathon mit leisem Gruß das Zimmer verlassen hatte, schritt er tief erregt auf und ab.
Agathon irrte planlos durch die Gassen und als er am Löwengardschen Haus vorbeikam, sah er Flur und Vestibül voll von Menschen, die sich aufgeregt gebärdeten; auch vor dem Haus standen Leute, darunter viele Arbeiter mit drohender Miene.
Er machte sich auf den Heimweg, ohne daß er all diese Dinge eines besonderen Nachdenkens gewürdigt hätte. Sie bereicherten nur seine Seele um das wunderliche Gefühl, daß etwas Entscheidendes in der Welt vorging und daß er selbst die Ursache und berufen sei, die Umwandlung herbeizuführen. Wahrend des ganzen Weges hatte er die bestimmte Vorempfindung von etwas Schönem und Angenehmem, und wie wenn er einen lange vermißten Freund aufsuchte, schritt er gegen das Dorf hinab. Wirklich stand Monika Olifat am Weg und begrüßte ihn, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte. »Wie geht es dir, Agathon? Warum bist du denn fortgerannt neulich? Du bist so eigen, Agathon. Wie das lautet: Agathon!« sagte sie nachdenklich, lächelte froh und sah ihm in die Augen.
»Es ist ein griechischer Name und bedeutet: der Gute,« entgegnete Agathon mit demselben innerlich frohen Lächeln.
»Bist du denn auch gut?«
»Ich weiß es nicht. Niemand kann es von sich wissen und wer es weiß, ist es nicht mehr.«
»Ich muß dir erzählen,« plauderte das Mädchen, »erstens, daß ich eine neue Freundin habe, Käthe Estrich. Sie ist hübsch und lieb; ihre Eltern ziehen hierher, sie haben die Ziegelei gekauft.«
»Zweitens?«
»Zweitens ist sie verlobt und ich kenne auch ihren Verlobten. Ein interessanter Mann«
»Stefan Gudstikker?«
»Du kennst ihn? Er hat mir ein Gedicht gezeigt, das er gemacht hat. Eine Stelle weiß ich auswendig:
Es ist so still, daß alle Wandrer staunen.
Wenn solche wundervolle Nacht aufziehet,
Hört man die Wolken und die Blumen raunen.
Dir Wünsche schlafen und kein Feuer glühet,
Du spürst nicht Duft von Myrten und Cypressen;
Die Welle ruht im Strom kein Vogel fliehet.«
»Das ist schön!« rief Agathon aus, blieb stehen und erblaßte.
»Ach Agathon, ich mag dich so gern leiden,« sagte nach einer Pause Monika erglühend. »Du bist so still und sein und was du sagst, ist so warm! Ich glaube, dich könnt ich nicht weinen sehen.«
»Ich hab auch noch nie geweint,« erwiderte Agathon, den Kopf senkend.
Monika nahm seine bebende Hand und küßte sie. Dann gingen sie weiter wie zwei Schlafwandler.
Auch im Dorf sah Agathon viele erregte, finstere, zornige Gesichter. Er wurde unruhig. Als er die Schwelle des Hauses überschritt, überfiel ihn ein stechender Schrecken; er sah jene Frau im Flur stehen, die ihm einige Zeit allmorgendlich begegnet war. Da er sie fassungslos anstarrte, klärte sie ihn auf: »Ich bin die Frau Hellmut und bin zur Pflege Ihrer Mutter da, junger Herr. Sie ist sehr krank. Sei ruhig, Sema!« herrschte sie den Knaben an, der zu ihr reden wollte und schlug mit dem Knöchel eines Fingers roy gegen die Schläfe des Knaben, so daß dieser zu heulen anfing
Als Agathon ins Zimmer kam, fiel ihm auf, daß seine beiden Geschwister wie Wachspuppen auf der Bank saßen und sich nicht rührten. Elkan Geyer starrte mit roten Augen vor sich hin. Bisweilen erwachte er wie aus einer Betäubung und rang stumm die Hände. Enoch saß schweigend am Ofen. Agathon wollte nicht fragen. Voll Besorgnis schritt er die Stufen hinauf, die vom Wohn- ins Schlafzimmer führten und fand seine Mutter allein. Ihr Gesicht war von einem grauenhaften Gelb. Sie lächelte so matt und gezwungen, daß Agathon nach einer geflüsterten Frage, die Frau Jette nur
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