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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Dokument erhoben; der Gerichtsschreiber nahm seine große Brille ab und musterte Raum und Menschen mit großen, verwunderten, wässerigen Augen.
    Gedalja, der sich so zusammengekrümmt hatte, daß sein Kinn die Knie berührte, richtete sich plötzlich straff empor und rief: »Hab ich's nicht gesehen kommen? Elkan, hab ich's nicht gesagt zum voraus? Hab ich nicht gesagt, der Zugrundrichter werd kommen über ihn? Nu is geschändet Gemeinde un Haus un Hof; un die Kinder wern habn zu tragen an deiner Guttat, Enoch. Was is Vernunft, daß se könnt bestehn vorm schlechten Gemüt? Haste abgestreift die Ehrfurcht wo d'r habn deine grauen Haare gegeben un mußt hinwandeln in Sünd und Schand. O Enoch, Enoch, hättste gehabt Erbarmen mit andere, hätteste aach gehabt Erbarmen mit dir selber.«
    Der Gendarm führte Enoch ab. Agathon sah, daß er keine Miene verzog. Etwas Starkes lag im Wesen dieses Alten, das die Furcht nicht kannte.
    Die Dämmerung brach herein. Agathon ging auf die Straße und wollte gegen den Wald hinauf, als er Gudstikker begegnete. Dieser zog ihn in den Schein einer Hauslaterne und gab ihm einen Brief mit der stummen Aufforderung, ihn zu lesen. Agathon erbleichte und legte die Hand vor die Augen: das hatte er schon irgend einmal erlebt, daß ihm dieser Mann einen Brief gab, vielleicht in einem vergangenen Leben, vielleicht in einem Traum.
    Langsam entfaltete er das vergilbte Papier und las beim Scheine des armseligen Lichtes: »Mein Liebster, das kann ich nicht, was du von mir forderst. Ich bin keine freie Frau, kein freies Mädchen. Ich bin nicht geboren, daß ich so hoch fliegen kann, bis zu dir. Aber meine Liebe ist in mir und will nicht vergessen, dich nie vergessen. Doch muß ich dich lassen, denn ich kann nicht tun, was du willst. Ich weiß nicht, welches Leben noch vor mir liegt, aber kann es nicht sein, daß das Kind, dessen Seele noch in meinem Leib schläft, mich deshalb anklagen würde? Darum leb wohl und werde glücklich. Deine Jette Pohl.«
    Agathon wußte zuerst nichts anzufangen mit diesen Worten. Dann zuckte er zusammen wie unter einem Schlag und flüsterte: »Meine Mutter?«
    Gudstikker nickte und erwiderte: »An meinen Vater.«
    »Und warum zeigen Sie mir das!« rief Agathon voll Kummer.
    »Warum? Das weiß ich selbst nicht. Vielleicht nur, um Ihnen zu zeigen, wie das Leben ist. Wie im Schauspiel geht alles. Ein Kobold hält uns an einem Faden und läßt uns genau so weit tanzen, wie er will.«
    Agathon sah verloren in die breite Mauer der aufgeschichteten Ziegelsteine, die sich für seine Blicke öffnete wie ein Sesam und ihn Jahre und Jahrzehnte zurückschauen ließ. Das war seine Mutter! Und wozu hatte sie das Leben gemacht! Hatte seine Mutter das empfinden können? Und wo war es nun hingeschwunden, das alles, wohin? Er begriff es nicht.
    »Ich weiß, was Sie denken,« sagte Gudstikker und fuhr mit seiner Lust an Weisheiten fort: »Es gibt nur zwei Wege für einen Menschen, – aus den Berg oder ins Tal. Droben ist er allein und vergeht, wenn ihn seine Seele im Stich läßt, unten wird er gemein. Doch reden wir von etwas anderem. Wissen Sie, daß das Gericht noch immer Nachforschungen hält wegen des plötzlichen Todes von Sürich Sperling? Eine Zeitlang glaubte man an Vergiftung. Sogar Ihr Vater kam in vorübergehenden Verdacht. Ein gewisser Rosenau hat den Untersuchungsrichter darauf geführt.«
    »Was –?« schrie Agathon und schlug die Hände zusammen.
    »Ihr Vater ist sogar einvernommen worden. Wissen Sie das nicht? Natürlich konnte er sich glänzend rechtfertigen, aber irgendwer sagte mir gestern, daß er seitdem von Furcht gepeinigt würde. Er ängstigt sich vor allen Gedanken, die er früher einmal gegen Sürich Sperling hatte.«
    »Mein Vater? Das sagen Sie wirklich? Und das ist wahr?«
    »Ob es wahr ist, weiß ich nicht. Ich glaube, derselbe Rosenau erzählte es spöttisch im Wirtshaus.«
    »Nein, nein, es ist nicht möglich.«
    »Weshalb regen Sie sich auf? Ich habe einen ziemlich sonderbaren Fall erlebt. In einer Familie kam ein Ring abhanden. Ich kenne die Familie, es sind Juden. Ein Verwandter, den ich auch kenne, Eduard Nieberding, war zu Gast. Als nun alle den Ring suchten, wurde Niederding wie gelähmt. Denn er war vorher allein in dem Zimmer gewesen, wo der Ring aufbewahrt war. Beachten Sie wohl, es konnte nicht der Schatten eines Verdachtes auf ihn fallen, er ist selbst ein reicher Mann, aber er beteiligte sich nicht am Suchen, damit man nicht glaube, er suche nur

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