Die Juden von Zirndorf
Luisina sitzen. »Nun, da sind Sie ja wieder,« redete sie ihn spöttisch an. »Was wissen Sie Neues? Warum sind Sie so finster, nachdenklich, schwermütig? Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Verzeihen Sie, daß ich Frage mit Frage beantworte: warum würdigen Sie mich Ihrer Beachtung, Madame?«
»Das will ich Ihnen erklären. Mir ist, als spräche ich in Ihrer Person zur ganzen sogenannten guten Gesellschaft. Ich habe auch dazu gehört und kenne Blicke und Gesichter. Aber so war es um mich bestellt, daß ich gezwungen war, hier, wo sonst das Niedrigste und Schmutzigste zu treffen ist, mich selbst zu suchen und zu finden. Was soll ein armes Weib tun in eurem Kreis von schalen Vergnügungen, von ekeln und zehnmal wiedergekäuten Genüssen? Was soll sie tun, da sie erst anfängt, unter Menschen zu zählen, wenn sie heiratet? Was kann sie dafür, wenn sie in einer Welt lebt, wo jeder darauf stolz ist, wenn er ein wenig unglücklich ist? wo die Lebensfreude beim Verlust der bürgerlichen Ehre anfängt? Sagen Sie selbst! reden Sie doch! Ach, Sie haben ein Gesicht, dem ich eigentlich vertrauen könnte. Glauben Sie mir, nicht die Not allein ist schuld an dem Fall so vieler Frauen, sondern die Sehnsucht, ja, die Sehnsucht.«
Sie schwieg. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah lächelnd hinein in den Qualm. Der Glühende sprach nur noch in Versen, Barbin hieb wie besessen auf das Instrument ein und gab seinem Körper einen erschreckenden Ruck, wenn er vom Fortissimo in ein effektvolles Piano heruntersprang. Einige Paare tanzten, plötzlich wurden die Gaslichter zu halber Höhe herabgedreht, Barbin hörte auf zu spielen, die Tanzenden blieben stehen und flüsterten: »Die Dämonen«.
Auf der Bühne erschienen in einem matten, grünen Licht vier Männer mit grünen Gesichtern und düstergrünen Gewändern, so enganschließend, daß sie wie nackt aussahen, und begannen ein phantastisches, unheimliches Spiel. Wie Fische im Wasser, so bewegten sie sich in der Luft; ihre Füße schienen des festen Grundes nicht zu bedürfen, ihre Glieder schienen an kein anatomisches Gesetz gebunden. Bald schienen sie alle ein einziger Leib zu sein, der sich in entsetzlichen Krümmungen wand, bald war der eine einem leblosen Klumpen gleich, wurde von unsichtbaren Händen in die Luft geschleudert und fiel krachend auf die Bretter zurück. Bald waren sie wie eine Meute von Hunden, denen der Jäger aus der Ferne pfeift, bald glichen sie Würmern und krochen auf unbegreifliche Art an den Kulissen empor. Als Bojesen den Blick abwandte, sah er in geringer Entfernung, im Dämmerlicht, Luisina stehen. Sie schien ihn lange beobachtet zu haben. Nun winkte sie ihm zu und wandte sich dann nach der Türe, als sie sah, daß er ihr folgen würde. Sie hatte einen Pelzmantel umgeworfen und ein blauseidenes Tuch um den Kopf geschlungen und ihre großen Augen sahen mit einem ungewissen Glanz, doch voll Entschlossenheit in eine weite Ferne.
»Man hat mir verraten, daß Sie der Lehrer Bojesen sind,« sagte sie, als sie auf der Straße waren; »ich habe oft von Ihnen gehört, ich kenne Ihre pädagogischen Schriften und bin froh, daß meine Sympathie nicht grundlos war. Wundern Sie sich nicht über das, was ich jetzt vorhabe. Ich brauche einen Zeugen, ein Urteil, eine Stimme, einen Blick, der mich billigt, ein Ohr, das sich nicht böswillig verschließt; denn noch Einmal heute will ich tun, was mein Herz fordert, und sehen, ob ich das Tor zu eurer Welt für ewig hinter mir zuschlagen muß.«
Welch eine Nacht! dachte Bojesen. Es herrschte nicht eigentlich Dunkelheit und auch nicht Helligkeit, es war eine jener seltsamen Herbstnächte, in denen sich alles Leben der Natur verinnerlicht zu haben scheint. Es fehlten auch jene Stimmen, jenes unbestimmte Geräusch, das wie ein aufbewahrtes fernes Echo des Tages ist. Der Wind hatte sich gelegt. Der Mond, eine unvollendete Scheibe, lag in einem graugelb schimmernden Flaum von Wolken und sah verquollen aus, wie Farbe auf seinem Fliespapier. Das Leben war von den Straßen wie fortgeblasen. Die Häuser mit den dunklen Fenstern und den weißen Gardinen sahen aus, als ob sie schliefen; Bojesen konnte die Straße entlang blicken bis an die Grenzen des Horizonts, und diese unbewegte Linie hatte etwas Beruhigendes.
Luisina schritt rasch dahin, hastig atmend, offenbar noch mit ihren Entschlüssen ringend. An einem vornehmen Haus jenseits des Bahndammes machte sie endlich Halt, drückte dreimal wie in verabredeten Pausen auf den
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