Die Juden von Zirndorf
wie die hilflosen Kinder.« Er nickte; Agathon lehnte die Stirn an seine Schulter.
»Zum Doktor! Zum Doktor!« kreischte plötzlich die Pflegerin und rannte fort. Elkan stand gebrochen auf der Schwelle und sagte: »Sie stirbt. Schemaa Jisroel adonai elohim adonai echot.«
Agathon richtete sich auf. Sein bleiches Gesicht war plötzlich von einem überirdischen Feuer erfüllt, das alle mit Bestürzung und Scheu gewahrten. Die heulenden Kinder sahen ihn an und waren auf einmal ruhig. Er ging ins Zimmer der Mutter, an Elkan vorbei, der sich zusammenduckte wie vor einem Pestkranken, und trat an das Lager der Mutter. Sie röchelte. Ihre Augen blickten matt, leblos, stumpf, suchten gleichsam den Tod. Agathon sah nicht dies Bild. Er sah die jüngere Mutter, die entsagt hatte, geliebt, verloren hatte und nun unter der schweren Bürde der Tage erlegen war. Er nahm ihre Hand und begegnete ihren Augen. Er legte seine Hand auf ihre verfallene Brust, gegen die das Herz verlöschend klopfte. Er wünschte, das Fenster möge offen sein und da öffnete es jemand, als ob es eine unsichtbare Hand wäre. Seine Brust war zum Springen voll, er wußte nicht ob vor Schmerz oder vor verhaltenem Jauchzen. »Werde gesund, Mutter, wache, Mutter, du bist nicht krank, du darfst nicht sterben.« Er kannte seine Stimme nicht mehr, sie war ihm etwas Neues; die Kraft, die seinen Körper aufatmen und sich aufrichten ließ, als wäre eine unerhörte Last von ihm genommen, erhellte seine Augen mit einem himmlischen Glanz. Und das Feuer schien in den Körper der Kranken überzuströmen; sie lächelte plötzlich unter seiner bebenden Hand, sie seufzte erleichtert auf, sie drückte mit den schwachen, fleischlosen Fingern seine Hand und rief seinen Namen. Und je länger er die erloschenen Züge ansah, je mehr belebten sie sich in einer geheimnisvollen Weise, – bis sie frei, mild und hoffnungsvoll schienen. Und als der Arzt kam, hereingeleitet von der Pflegerin, richtete sich Frau Jette zu dessen Erstaunen empor, legte den Kopf auf den aufgestützten Arm und lächelte dem Doktor und ihren Kindern mit dem inbrünstig strahlenden Lächeln einer Genesenden zu.
Neuntes Kapitel
Novemberstürme!
Bojesen schritt durch die leeren Gassen und der Umhang seines Mantels wehte hoch empor. Sein Hut flog vom Kopf, rollte hin über die Steine und blieb vor dem Eingang zum »siebenten Himmel« ruhig liegen, wie ein Pferd, das seine Station kennt. Bojesen hob ihn gemächlich auf und trat in das Lokal, das voll Menschen war. Er nahm Platz, bestellte Bier und wandte bald keinen Blick mehr von der Bühne. Über eine nächtige Landschaft schien ein kunstloser Mond; ein Ritter wandelte an einem primitiven Wasser und streckte bisweilen den Arm aus. Da öffneten sich die unglaubwürdigen Wolken und eine Erscheinung stand zwischen ihnen: Luisina. Der Ritter verzweifelte, diesem geliebten Bilde jemals nahe zu kommen, warf sich auf die Erde und gab vor, zu weinen. Da erhob sich ein Zauberer aus einer mangelhaften Versenkung, oder es war Satan selbst, wies ein Pergamentum vor und befahl dem Ritter, ihm seine Seele zu verschreiben. Das tat der Ritter, darauf schwebte die schöne Luisiana aus den Wolken herab, die Nacht war beendet, Wasser und Mond verschwunden, Mädchen mit wilden Haaren stürzten auf die Szene und zerrten junge Männer hinter sich nach. Nun begann das Publikum mitzuspielen. Ein langhaariger Mensch saß am Klavier und entlockte dem unwilligen Instrumente eine Folge von schrillen Harpeggien im Walzertempo. Der Glühende erschien mit emporgehobenen Armen und ekstatischen Begeisterungsausbrüchen, die Köchin kam und schrie, sie könne das Wasser zum Punsch nicht kochen, denn der Wind fahre stets in den Schlot und lösche das Feuer aus. »Nimm das Feuer meiner Brust, Aglaia!« heulte der Glühende. Ein Mann mit langem Haupthaar war da, den man Barbin nannte und der sich ängstlich gebärdete, obwohl er zugleich den Übermütigen zu spielen versuchte. Sein Äußeres wie sein Wesen deuteten auf eine jener zwecklosen Existenzen, wie sie die Städte hervorbringen, eines jener unglücklichen Geschöpfe, für die die Zeit eine käufliche Dirne ist, da sie ihnen ohne Münze nichts gibt, womit sie ihr Leben verkürzen können. Dieser Barbin wandte sich bisweilen an den Glühenden, als flehe er ihn um Schutz an, und suchte dies durch ironische Worte zu bemänteln, die aber von dem tollen Jauchzen auf der Bühne verschlungen wurden.
Plötzlich sah Bojesen sich gegenüber
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