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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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kann.«
    Eine lange Pause entstand.
    »Wenn ich nun reden muß, und wenn dies alles vorgefallen ist,« sagte Bojesen langsam und betrachtete mit Trauer die schwammigen, nervösen Züge des jungen Mannes, »dann ist es gewiß erstaunlich, aber es liegt in der Zeit. Ja, es liegt in der Zeit. Mit welchem Wort Sie es nennen wollen, ist gleichgültig. Es ist all dies Mystische und Schwächliche, das über uns gekommen ist wie eine Krankheit, daß wir nicht mehr wissen, was Kraft oder Roheit oder wahrhafte Scham oder Unnatur ist. Sie sind Jude, Herr Niederding, wie? Nun, Ihr Volk ist es, das uns dies Geschenk gemacht hat, Ihr arbeitsames, intelligentes, stets an Extremen bauendes Volk. Sie lieben nicht das Weib, sondern Sie lieben die Liebe, nicht die Selbstbetrachtung und Selbstvervollkommnung, sondern das Quälerische, Zerstörende, Erniedrigende, alles, was Sie zum Märtyrer macht. Es gibt viele von Ihrer Art. Flagellanten, unsere Flagellanten, und der Gott, vor dem sie sich geißeln, ist das wohlbekannte Ich, diese Phrase von der Individualität, vor der jetzt alles auf den Knien rutscht. Und wenn ich sage, die Juden sind schuld, so ist es keine gedankenlose Anschuldigung. Nicht jene alten Juden, die noch fromm sind, sie sind entweder ehrwürdig oder komisch; nein, die sogenannten modernen Juden, die vollgesogen sind mit dem ganzen Geist und der Überkultur des Jahrhunderts, sie sind es, die mit ihrer menschlichen Düsterkeit und geistigen Schärfe ein Pseudochristentum aufrichten mit Gefühlskasteiungen, fleckenloser Liebe und dergleichen. Ich weiß es nur zu gut, es ist ein altes Erbe Ihres Volks.«
    Nieberding erhob sich zitternd, trat auf Bojesen zu und flüsterte: »Herr –!«
    Bojesen hielt seinen Blick ruhig aus und schwieg.
    »Ich habe ihn geliebt,« sagte Jeanette leise und sah gedankenvoll vor sich hin. »Weißt du, wozu ich nun geworden bin?« fragte sie laut und fest.
    Nieberding, der jetzt am Fenster stand und unbeweglich hinaussah, wandte sich um und sagte: »Jeanette, du hast niemals eine Schätzung gehabt für das edle Gestein und für seltene Menschen. Aber daß du zu solchen Mitteln greifen mußt! Wie überflüssig und theatralisch! Seine einleuchtenden Erläuterungen mag sich dieser Herr für den Horsaal sparen. Mag ich sein, was ich will, ein Flagellant oder ein Bacchus, damit die Ausdrucksweise des Herrn zu Ehren kommt, du hattest gegen meine Gefühle gewisse Pflichten, mehr will ich nicht sagen. Ich trinke das Leben aus den Tiefen, wo andere Leute nur Finsternis gewahren, ich finde Genüsse, wo andere nur Narrheiten sehen, – gut, laß mich so sein. Geh' jetzt fort und laß mich allein.«
    Jeanette hatte kein Auge von ihm gewandt. Nun ging sie hin, legte ihren Mund auf den seinen, und so blieben sie minutenlang. »Und nun leb wohl,« sagte Jeanette, »wer weiß, wo wir uns wieder finden.«
    »Im Kot oder bei den Sternen,« entgegnete Nieberding trübe lächelnd.
    An der Treppe stand Cornely. »Was war es?« fragte sie hastig mit einem scheuen Seitenblick auf Bojesen.
    Jeanette schüttelte den Kopf; ihre Augen standen voll Tränen, zugleich lächelte sie in einem wunderlichen, frauenhaften Trotz. »Du weißt alles, was geschehen ist, gute Cornely. Du ahnst es. Du weißt, was mein Vater getan hat, daß er zahllose Familien um ihr Brot gebracht hat. Nun sollte ich eigentlich ehrlos sein. Aber ich habe mich losgerissen von meinem Namen und von meiner Familie, und was ihr Niedrigkeit nennt, nenne ich vielleicht Ehre, und was dir Selbstüberwindung ist, ist mir Feigheit und Furcht. Gute Nacht, Liebe.«
    Bojesen folgte ihr und ihm war, wie wenn er durch die Luft hinschwebte, wie wenn nichts mehr an der Erde wäre, was ihn festhalten könnte.
    Es schneite. Große Flocken fielen hernieder. Ein friedliches Fallen, ein lautloses Herabgleiten schimmernder Kristalle. Plötzlich sagte Jeanette, indem sie ihre Schritte hemmte: »Wissen Sie, woran ich denke? An die grünen Dämonen vom siebenten Himmel. So ist die Welt, so sind die Menschen; ein zielloses Hin-und Hergleiten, man fürchtet, jeder könne den Hals brechen und jeder wird doch wieder durch den andern getragen und beschützt. Und dann, was ich nicht so recht ausdrücken kann: dies Spielen auf die Wirkung oder so ...«
    »Ja, eigentlich ist das ganze Leben bloß ein Symbol, und wir können nichts anderes tun, als alles, was uns zustößt, symbolisch zu betrachten. Darum sind auch die Dichter am größten, die das Leben möglichst

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