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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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selbst zum Denken zu bringen, aus Andeutungen und aus Anschauungen ein Gesetz zu konstruieren. Ich habe ihnen aus der Wissenschaft immer ein schmackhaftes Stück Brot gemacht, nicht ein Pensum für das Gedächtnis. Aber was Sie, meine Herren, unternehmen, ist aussichtslos. Sie machen aus der Schule eine Verdummungsanstalt, und kein munter fließendes Wasser wird aus diesem Sumpf herauskommen. Alle bleiben unglückselige Marionetten, oder wie Sie es nennen, faule Schüler. Aber faul sind nur Ihre Einrichtungen. Wer dem Geist der Jugend etwas nahe bringen will, muß es mit dem Herzen tun, nicht mit dem Vocabularium. Ich möchte sagen, er muß ein wenig spielen dabei, Sie müßten beinahe ein wenig Künstler sein. Hat mein verehrter Kollege, – verzeihen Sie: Exkollege, Lehrer der Geschichte, jemals daran gedacht, den Schüler mit den großen, menschlichen Dingen der Geschichte vertraut zu machen? jemals den Geist des grandiosen Zusammenhangs zu erklären versucht? jemals ein farbenreiches Bild daraus gemacht, und das wäre von höherem, sittlichem Wert als hunderttausend Jahreszahlen und Dynastiennamen. Und was Religiosität betrifft, Herr Rektor, so haben Sie keine Angst um mich. Beide zeigen sich nicht im Götzendienst. Was Sie mit diesen schönen Worten meinen, ist Duckmäuserei und Frömmelei. Vielleicht kommt die Zeit selbst für Sie noch, der Sie graue Haare haben, wo Sie mit Kummer an das denken werden, was ich Ihnen eben gesagt habe. Ich empfehle mich den Herren.«
    Er eilte hinaus und ließ die sechs würdigen Schulmänner in unbeschreiblicher Verblüffung zurück. »Gehen Sie hinunter, Schachno, und verhindern Sie, daß er mit den Schülern spricht,« sagte der Rektor erregt.

    Daran dachte Bojesen nicht. Er hatte bereits das Schulhaus verlassen und ging bis die Häuser zu Ende waren, bis die Ebene vor ihm lag. Und wie er weiter und immer weiter ging, vergaß er auch mehr und mehr seinen persönlichen Schmerz, und das Drückende und Gedrücktsein, das in ihm war, löste sich auf in allgemeine Wehmut um etwas unbestimmtes Verlorenes, in eine wie hingehauchte Trauer um vergebliches Ringen. Er empfand jene Müdigkeit zu denken, die zu vagen, aber tröstlichen Bildern führt, bis an die Pforte der Melancholie, wo sie sich mit liebevoller Innigkeit an alle Gegenstände der Natur hängt und auch dem zufälligen Flug eines Vogels eine tiefe, vorbedeutungsvolle Wichtigkeit verleiht.
    Still und neblig, wie erfroren, lag da oder dort ein Dorf. Gleich einer Wand von Schleiern erhob sich bisweilen ein Gehölz. Der Himmel war unbeweglich; keine einzelne Wolke war zu sehen, nur eine schwerhingezogene Decke. Dornenhecken standen am Weg und vermehrten das Grüblerische, Insichgekehrte dieser Landschaft. Raben flogen lautlos über die Äcker, setzten sich majestätisch auf schwarze Erdschollen, die aus dem Schnee ragten und guckten furchtlos mit schlauen und boshaften Augen auf den Wanderer.
    Als es dunkelte, kam er zurück in die Stadt, und es war ihm, als ob er ein Jahr lang fortgewesen wäre. In langsamem Gleichmut als wäre es die Folge eines weit zurückliegenden Entschlusses, wanderte er nach der Richtung von Jeanettens Wohnung und fand sie zu Hause.
    Sie war nicht erstaunt, ihn zu sehen und reichte ihm ruhig die Hand.
    »Man weiß natürlich schon in der ganzen Stadt, wo ich bin und was ich treibe,« sagte sie im Lauf des Gesprächs verächtlich. »Die Herren der Gesellschaft werden zum ›siebenten Himmel‹ kommen, und ich werde die Sensation sein, der Stadtklatsch. Das ist mir widerlich. Wenn ich mit meinen Vorübungen fertig bin, geh ich nach Paris. Ich brauche anderes Leben. Es wird auch ein anderer Tod sein, wenn es so kommt.« Sie lachte.
    »Fort gehst du? Und was für Vorbereitungen meinst du?«
    »Tanz! Die menschlichen Leidenschaften im Tanz. Der Tanz soll wieder Kunst werden. Ich denke zum Beispiel an einen Tanz der Liebe. Alles ist Feuer, hinneigende und verborgene Glut. Jede Linie andächtig und verzückt und schließlich die unterdrückte Erregtheit. Dann der Haß. Offene Glut, wildes Gebärdenspiel, wildes Spiel aller Linien. Dann viele andere. Ich denk es mir wundervoll. Eure andern Künste haben abgewirtschaftet. Sie beruhen auf der Eitelkeit. Es gibt nur noch Wissenschaft und Tanz in der Zukunft.«
    Bojesen sah hilflos vor sich hin. Redensarten, dachte er.
    Jeanette begann jetzt wieder zu tanzen: auf den Zehen, den Körper in wellenhaften Bewegungen vor-und zurückbiegend und mit schwärmerischem

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