Die Juden von Zirndorf
daß er ein Materialist sei, ein Freidenker, Freigeist, ein Atheist und machte ihn mit seinem Plan bekannt, einen Atheistenverein zu gründen. Er sah darin die höchste Vollkommenheit des Geistes; jeder Atheist war im Voraus sein Freund, er suchte Disziplin in die Atheisten zu bringen und wollte sie organisieren.
Herr Binsheim war es auch, der ihm erzählte, Stefan Gudstikker habe ein Buch veröffentlicht, worin die Leiden eines tragisch endenden Schulknaben so meisterhaft geschildert seien, daß das Werk in kurzer Zeit das größte Aufsehen erregt habe. Bojesen bat Herrn Binsheim um das Buch, doch als er es lesen wollte, fand sich, daß Herr Binsheim die Blattränder dazu benutzt hatte, um seine Feder in kritischen Anmerkungen schwelgen zu lassen. Daher konnte sich Bojesen lange Zeit nicht zur Lektüre entschließen, denn ihm war, als solle er sich in ein Bett legen, das noch warm war vom Schlaf eines Fremden. Schließlich las er es doch und fand viel Gewandtheit der Darstellung in dem Buch, viele blendende Einzelheiten; er fand viel Wollen, das nicht zur Kraft entwickelt war und jenes wunderbare Spiel mit Natürlichkeit, jene leicht überspannte Romantik der Gefühle, die sich um einfache Wirkungen herumlügt, weil sie des Einfachen nicht fähig ist.
Ost wenn Bojesen nach Hause gekommen war und sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, wurde vor der Türe ein schwaches Knistern hörbar. Dies Knistern stammte von einem Kleide, und die dies Kleid trug, war Fanny Bojesen. Fanny Bojesen schlich über die sich krümmenden Dielen dahin, schreckte bei jedem Laut zusammen und legte ihr Ohr an die Türe des Gemachs, hinter dem sich der einsame Mann verschanzt hatte vor dem Leben und vor der Liebe. Sie wurde nicht müde, zu lauern und zu lauschen, und nicht einmal ein Seufzen von drinnen belohnte ihre Qual. Oft nach solch fruchtlosem Spionieren setzte sie sich in ihrem Zimmer an den Tisch und schrieb, schrieb, schrieb ... die lange, klagende Epistel des unglücklichen Weibes, und am folgenden Morgen verbrannte sie was sie geschrieben. Wenn Bojesen ausging, versteckte sie sich; wenn er kam, versteckte sie sich; aber nie war ihr Gehör seiner und wachsamer gewesen für jedes Berausch, das auf sein Kommen oder Gehen deutete; wenn sie sich zufällig begegneten, wußte sie ihr Gesicht von Gleichgültigkeit förmlich strotzen zu lassen, und war sie dann allein, so weinte sie stundenlang. Als später das Dienstmädchen abgeschafft wurde, war es an ihr, ihm die nicht allzu reichlichen Mahlzeiten zu servieren. Keine Regung ihres Innern war dann auf ihrem Antlitz zu gewahren, kein Erblassen, kein Zittern ihrer Hand zu sehen. Trotzdem schluckte Bojesen in dieser Zeit manche Träne ahnungslos mit hinunter, die ohne sein Wissen die Speisen gewürzt hatte.
Er ergab sich jetzt den stillen Studien, die an der Grenze der Wissenschaft liegen und den Ausblick gestatten auf ein unermeßliches Reich von Hypothesen, auf die schrankenlose Nutznießung phantastischer Probleme. Es schien ihm oft, als ob sein Verstand dabei in die Brüche gehen müsse, aber dies gefährliche Tappen im Reich unumstößlicher Gesetze entzog ihn der Welt und seinen eigenen Sorgen, und wenn er spät, spät in der Nacht in irgend einer ungeheuerlichen Formel den Boden neuer Entdeckungen zu sehen glaubte, konnte er in eine erhitzte Wonne geraten, wie ein Wirt über das Bier, das er selbst gebraut und konnte vergessen, wie nahe ihm die Forderung praktischer und lohnender Arbeit gerückt sei.
Eines Tages, der Schnee war im Schmelzen und laue Winde kamen, fühlte er sich gänzlich abgespannt, fühlte er sich alt. Es war ein wunderlich wissender Zustand, durch den er über sich selbst hinausspähen konnte und zugleich das Gefühl von Wichtigkeit verlor, das die Quelle nützlicher Leistungen ist. Da wurde ein Brief in sein Zimmer geworfelt, der den Poststempel Paris trug und so lautete:
»Eines Wortes bist du noch wert. Ich erfülle deine Bitte: hier hast du ein Lebenszeichen. Ich kann es dir mit Recht senden, denn ich lebe hier. Hier hört man das Herz der Menschheit schlagen. Hier bin ich, die ich stets gewesen bin, nur unentdeckt gewesen bin, hier trinkst du dich wahnsinnig am immergefüllten Becher. Tausende purzeln, Hunderte steigen, Tausende jubeln und sterben zugleich. Aber es ist vielleicht nicht das Echte; nicht Nektar, sondern Haschich. Nichts für deinesgleichen! Nichts für gute Charaktere, für euch Perlen am alternden Hals Europas. Ich komme vielleicht
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