Die Juliette Society: Roman (German Edition)
willst. Eigentlich sind dreißig Sekunden in seiner Gegenwart bereits genug, um sich dessen ganz sicher zu sein. Du kennst nur seinen Vornamen, aber du weißt bereits alles, was du je über ihn wissen willst oder musst. Und du überlegst schon fieberhaft, wie du aus der Nummer herauskommst.
Das ist gerade so eine Party.
Und Dickie ist dieser Typ.
Dickie macht irgendwas mit Beton. Fertigbeton. Er arbeitet schon sein ganzes Berufsleben in der Baubranche. Er ist Vorstand und Geschäftsführer einer der weltgrößten Baumaterial-Versorgungsfirmen. Beton ist sein Leben und seine Leidenschaft. Er versucht, mich davon zu überzeugen, dass der erste historisch dokumentierte Gebrauch von Zement genauso wichtig für die Weltgeschichte war wie die Entdeckung des Feuers. Dass sein Metier genauso wichtig für die kulturelle Entwicklung der Menschheit ist wie Archäologie, Medizin und Philosophie zusammen.
Aber er ist nicht Mutter Theresa. Dickie hat Büros in allen Krisengebieten rund um den Globus. Er stellt genug Beton her, um Länder schneller wieder aufzubauen, als man sie zerstören kann. »Krieg bedeutet das große Geschäft«, erklärt er mir.
Anna unterhält sich mit Dickies Kumpel Freddie, einem Hedgefonds-Manager. Sie kichert, und es sieht so aus, als würde sie sich amüsieren. Dickie mag ja stinkreich sein, aber eine Konversation mit ihm ist so trocken wie sein Geschäft. Dickie ist so langweilig, dass es mir fast die Hose auszieht.
Das heißt, wenn ich eine Hose anhätte. Hab ich aber nicht.
Ich trage eine Maske aus schwarzer Spitze, die meine Augen bedeckt, weiße Kniestrümpfe, rote Slingpumps und ein bodenlanges Cape, das mich umhüllt wie eine Decke – rubinrot und passend zu meinem Lieblingslippenstift. Auf die Unterwäsche habe ich diesmal verzichtet.
Anna hat eine filigrane Metallmaske in Form eines Schmetterlings auf dem Gesicht und trägt ein smaragdgrünes Cape, dass sie sich wie einen Pelz umgelegt hat. Zusammen sehen wir aus wie die zwei Phasen einer Ampel.
Die Masken und Capes sind Teil des Dresscodes bei dieser kleinen Soirée. Diesmal lautet das Motto nicht Leder und Jeans, sondern maskiert und anonym. Denn wir befinden uns auf einer Themen-Sexparty. Auf einer Eyes - Wide - Shut -Party.
Es liegen Welten zwischen dieser Veranstaltung und der Fuck Factory . Dieser Ort hier ist anders. Er ist exklusiv und elitär.
Ich frage mich, was Kubrick daraus machen würde. Stanley, nicht Larry. Sein letztes Meisterwerk, die längste Einstellung der Filmgeschichte, ist eine akribische Fabel von der Überschneidung zwischen Sex, Reichtum, Macht und Privilegien. Ein Film, bei dem, wie bei allen seinen Filmen, jedes Detail, jede Nuance des Aufbaus und der Inszenierung einem speziellen Zweck dient. Ein Film, in den er so viel Leidenschaft und Arbeit steckte, dass es ihn buchstäblich umbrachte und er nie die Gelegenheit bekam, die Reaktion des Publikums zu sehen.
Vielleicht ist das auch besser so, denn Stanley Kubrick konnte kaum voraussehen, dass eben die Leute, von denen der Film handelt, die Geschichte wörtlich nehmen würden: eine außergewöhnlich reiche Minderheit, deren Macht und Privilegien ihr freie Hand lassen, nach eigenen sozialen, moralischen und sexuellen Gesetzen zu leben, die für den Rest von uns nicht gelten. Diejenigen, die glauben, Erhabenheit sei etwas, das man sich mit einer Kreditkarte kaufen oder in einem Showroom aussuchen kann, hielten den Film fälschlicherweise für kaum mehr als einen aufwendig gestalteten Werbespot für einen Swingerclub der Extraklasse, für kaum mehr als eine Rechtfertigung für einen Ort wie diesen.
Wir befinden uns im Wohnzimmer eines großen, geschmackvoll eingerichteten Landhauses voller Antiquitäten und wertvoller Kunstreproduktionen. Wo genau wir sind, weiß ich nicht. Anna ebenso wenig, denn wir wurden von einem Fahrservice, den Bundy organisiert hat, hergebracht. Wir beide sind auf dem Weg dorthin eingenickt, in den Schlaf gewiegt vom Motorengeräusch, den blinkenden Rücklichtern vor uns und den sanften Bewegungen des Wagens, der sich über gewundene Landstraßen schlängelte, sobald wir die Stadt verlassen hatten. Und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass Anna mich sanft an der Schulter anstupste und sagte: »Catherine … Catherine … wach auf. Wir sind da.«
Erst als wir das Anwesen betreten haben, fällt mir auf, dass ich weder eine Ahnung habe, wo wir sind, noch eine Möglichkeit, dies festzustellen, denn draußen ist es dunkel
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