Die Juliette Society: Roman (German Edition)
Schock, mich, das Objekt seiner Begierde, dort oben auf der Bühne zu sehen, wird schon bald abgelöst von der Erregung, die er dabei verspürt, seinen Blick über meinen Körper schweifen zu lassen, aus nächster Nähe und in allen Einzelheiten. Er wird von der Welle der Erregung mitgerissen, die das Publikum erfasst hat.
Er möchte eingreifen und sich mir zeigen, fürchtet jedoch, was passieren könnte, fürchtet, es könnte schreckliche Konsequenzen für uns beide nach sich ziehen. Man könnte womöglich auf uns losgehen und uns in Stücke reißen. Also lässt er diese Überlegungen schließlich fallen, ergibt sich seinen Trieben und macht sich mit der lüsternen Menge gemein.
Wenn ich nur gewusst hätte, dass dort unten jemand ist, den ich kenne, dass er dort unten ist, wäre es vielleicht anders gekommen. Dann hätte ich mich vielleicht nicht meinem Schicksal ergeben.
Mir wird der Knebel abgenommen, das Seil, das meine Hände fesselt, wird gelockert. Ich bin frei. Aber ich schreie nicht um Hilfe oder ergreife die Flucht. Freiheit hat für mich jetzt eine andere Bedeutung.
Ich bin hungrig. So hungrig wie die Federaugen und die Hände, die nach mir greifen. Also packe ich instinktiv etwas, was mein Bedürfnis stillt, meinen Mund sättigt und meine Hände beschäftigt. Mein Körper ist rot und wund von den Schlägen, den Kniffen und den Berührungen. Es ist das flammende Rot der Eichenblätter. Aber es macht mir nichts aus, weil ich mich jetzt mit meiner Natur im Einklang befinde, weil ich spüre, dass mein Körper genau dafür gemacht ist.
Erst jetzt kann ich mich im Stuhl aufrichten und über die Männer hinausblicken, die an sich herumfummeln, während sie darauf warten, an die Reihe zu kommen. Ich blicke hinunter in den Zuschauerraum. Überall Körper, Reihe um Reihe, zu zweit oder zu dritt, an den Hüften und mit den Mündern verbunden. Gestalten, die sich ineinander verschlungen bewegen. Wie die Glyphen eines Alphabets der Lust. Eine universelle Sprache, die keiner Erklärung bedarf. Und mir wird bewusst, dass ich der Grund dafür bin, und das törnt mich am meisten an. Es ist mein Verlangen, das mich hierhergebracht hat, das dies hier geschaffen hat, und plötzlich begreife ich, was es heißt, verrückt vor Lust zu sein.
Und hier endet die Geschichte. Kurz vor Schluss. Wo mein Traum Nacht für Nacht, Jahr um Jahr unterbrochen wird. Ganz gleich, wie sehr ich mir einrede, ich könnte ihn nach Belieben formen und ändern, ich bringe ihn einfach nicht zum Ende. Ich habe mir schon tausendmal den Kopf darüber zerbrochen, ob ich etwas übersehen oder seit dem erstem Mal, als ich die Geschichte hörte, vergessen habe, ob mir etwas entgangen ist. Doch alles, was mir dazu einfällt ist Folgendes:
Wir saßen am Boden und dachten uns die verschiedensten Varianten für den Schluss aus. Ein Ende wie im Märchen, bei dem der heimliche Verehrer auf die Bühne stürmt, das Mädchen rettet wie ein strahlender weißer Ritter, mit ihr durch die große, grüne Tür entkommt und zurück in ihre Wohnung eilt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Denn für Kinder haben alle Märchen ein glückliches Ende, und mehr war es nicht für uns, nur ein Märchen wie Dornröschen oder Hänsel und Gretel , nicht düsterer, angsteinflößender oder unwirklicher.
Ich glaube nicht mehr an Märchen. Heute weiß ich es besser.
Glückliche Ausgänge sind Kinderkacke.
Und der Traum?
Den lebe ich jetzt.
Ich weiß es.
Und das Ende ist noch offen.
15. Kapitel
Jeder kennt die Situation.
Du bist auf einer Party.
Du stehst rum – oder sitzt rum –, willst nur deine Ruhe und lässt das Geschehen auf dich wirken. Oder du quatschst mit einer Freundin über irgendwas, das nur euch beide interessiert, und lachst über eure Insiderwitze. Und wie aus dem Nichts kommt dieser Kerl auf dich zu.
Du weißt nicht, wer er ist. Deine Freundin genauso wenig. Du erinnerst dich auch nicht, ihn schon mal irgendwo getroffen zu haben. Aber es ist möglich, dass du ihn flüchtig gesehen hast, als du auf die Party gekommen bist, dir aber nichts dabei gedacht hast. Möglich, dass du sogar unabsichtlich in seine Richtung gelächelt hast. Und er hat es als Signal fehlinterpretiert, als sein Stichwort.
Jetzt steht er vor dir. Er sagt »Hi« und stellt sich vor, denn für ihn ist eine Party dazu da, Leute kennenzulernen. Und er ist wild entschlossen, dich kennenzulernen. Was aber nicht unbedingt bedeutet, dass du ihn auch kennenlernen
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