Die Jungfernbraut
der Frau, deren Augen schreckensweit aufgerissen waren. Es gefiel ihr, diese Angst zu sehen.
»Du hast deinen Vater geholt und ihm lauter Lügen erzählt, so daß er Gewissensbisse bekam. Eigentlich wollte er nämlich nicht zurückkommen. Er will sie los sein. Er hat jetzt ihr Geld, wozu sollte er sich da noch mit ihr abgeben?«
»Bitte geh weg, Tante.«
»Ich habe gehört, daß hier von Kelpies und Ebereschen gesprochen wird. Hallo, Tante, hallo, Philip! Wie geht es Joan?«
Philip zuckte im ersten Augenblick erschrocken zusammen. Serena hatte das Zimmer lautlos betreten, wie ein Gespenst, und stand jetzt dicht neben dem Bett.
»Sie heißt Sinjun. Bring Tante Arleth weg von hier, Serena, bitte.«
»Warum denn, mein lieber Junge? Was die Ebereschenkreuze betrifft, so verabscheue ich sie von ganzem Herzen. Warum erwähnst du sie überhaupt, Tante? Gewiß, ich bin eine Hexe, aber das Ebereschenkreuz kann mir nichts anhaben.«
Philip fragte sich, ob bald auch er selbst den Verstand verlieren würde, aber er hatte jetzt keine Angst mehr. Was auch immer Serena sein mochte, sie würde nicht zulassen, daß Tante Arleth Sinjun etwas zuleide tat.
»Verschwinde, Serena, sonst kröne ich dich mit einem Ebereschenkreuz!«
»O nein, Tante, das wirst du nicht tun. Du weißt genau, daß du mir nichts anhaben kannst. Dazu bin ich viel zu stark und viel zu gut.«
Tante Arleth war blaß vor Zorn, und ihre Augen waren so kalt wie das Loch Leven im Januar.
Und dann betrat zu Philips grenzenloser Erleichterung sein Vater das Zimmer. Colin blieb wie angewurzelt stehen, als er seinen Sohn dicht neben Joan auf dem Bett kauern sah, so als müßte er sie beschützen. Serena erweckte den Eindruck einer schönen Märchenprinzessin, die aus Versehen in ein Tollhaus geraten war und jetzt nicht wußte, was sie tun sollte.
Tante Arleth starrte völlig ausdruckslos auf ihre mageren Hände hinab, die mit Altersflecken übersät waren.
»Colin?«
Er ging lächelnd auf das Bett zu. Endlich schien sie ihn richtig zu erkennen. »Hallo, Joan, ich freue mich, daß es dir besser geht.«
»Was ist ein Kelpie ?«
»Ein böser Wassergeist, der alle möglichen Gestalten annehmen kann und seine Macht vom Teufel bekommt. Aber warum willst du das wissen?«
»Ich weiß nicht, das Wort ging mir ständig im Kopf herum. Danke. Kann ich etwas Wasser haben?«
Es war Philip, der ihr das Glas an die Lippen hielt. »Hallo«, sagte sie. »Was ist, Philip? Seh ich so schrecklich aus?«
Der Junge berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. »O nein, Sinjun, du siehst gut aus. Es geht dir wieder besser, ja?«
»Ja, und weißt du was? Ich habe Hunger.« Sie wandte sich Tante Arleth zu. »Du haßt mich und wünschst mir nichts Gutes. Ich verstehe dich nicht. Ich habe dir doch gar nichts getan.«
»Das ist mein Haus, kleines Fräulein, und ich werde ...«
»Nein, Tante Arleth«, fiel Colin ihr sanft ins Wort, »du wirst jetzt sofort das Zimmer verlassen und es nie wieder betreten. Keine Widerrede.«
Sie entfernte sich langsam und widerwillig, und er fragte sich, ob sie nun endgültig ihren ohnehin schon dürftigen Verstand verloren hatte. Dann hörte er seine Frau sagen: »Philip, hol mir bitte die Pistole aus der Tasche meines Reitkostüms und leg sie unter mein Kissen.«
Colin hätte ihr gern gesagt, daß sie sich nicht lächerlich machen solle, aber er schwieg, weil er selbst alles andere als sicher war, daß Tante Arleth nicht tatsächlich versucht hatte, ihr etwas anzutun.
»Ich werde Mrs. Seton sagen, daß du Krankenkost benötigst, Joan.«
»Ich erinnere mich, daß du mich Sinjun genannt hast.«
»Mir blieb nichts anderes übrig, denn auf deinen richtigen Namen hast du nicht reagiert.«
Sinjun schloß die Augen. Sie war wieder schrecklich müde und so schwach, daß sie die kleine Pistole nicht hätte festhalten können, auch wenn es um ihr Leben ginge. Das Fieber stieg, und sie schauderte. Außerdem hatte sie immer noch schrecklichen Durst.
»Papa, bleib du bei Sinjun, und ich sage Mrs. Seton Bescheid. Hier ist die Pistole, Sinjun. Ich schiebe sie unter das Kissen.«
Colin gab ihr zu trinken, und dann setzte er sich neben sie, und sie fühlte seine Hand auf der Stirn und hörte ihn leise fluchen.
Von einer Sekunde zur anderen schlug die Hitze in Kälte um, und sie hatte das Gefühl, von Kopf bis Fuß ein einziger Eiszapfen zu sein, der zerbersten würde, sobald sie sich bewegte.
»Ich weiß«, flüsterte Colin. Er zog sich hastig aus, kroch
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